Studentenproteste:Als Opas Frankreich wankte

Wilfried Loth: Fast eine Revolution

Wilfried Loth: Fast eine Revolution. Der Mai 68 in Frankreich. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2018, 326 Seiten, 29,95 Euro. E-Book: 26,99 Euro.

Frankreich langweilt sich, lautete die berühmte Fehlprognose eines Leitartiklers der Zeitung "Le Monde" Mitte März 1968. Der Historiker Wilfried Loth hat die Mai-Ereignisse in Paris frisch aufbereitet.

Von Claus Leggewie

Frankreich langweilt sich, lautete die berühmte Fehlprognose eines Leitartiklers von Le Monde Mitte März 1968, als sich überall sonst auf der Welt starker Protest zu regen begann, aber auch in Paris die "Bewegung des 22. März" schon auf dem Sprung war. Wenig später wankte nicht nur die Sorbonne, sondern die ganze Fünfte Republik und "Opas Frankreich". Am Ort vieler historischer Revolutionen verdichtete sich im Mai 68 ein Vorgang, der als erste globale Revolution anzusehen ist.

Oft schon ist diese Geschichte re- und dekonstruiert worden, von Veteranen und Nachgeborenen, nostalgisch oder hitzig, auf Anschluss oder Revanche bedacht. Dem Essener Zeithistoriker und Frankreich-Spezialisten Wilfried Loth gelingt es, die Chiffre "1968" frisch aufzubereiten und die Ereignisse in ein gut lesbares Narrativ zu bringen. Seine Generalthese: "Die Akteure wirkten als Agenten der Globalisierung, wuchsen deswegen aber noch nicht zu einem globalen Akteur zusammen." So stellt er vor allem französische Besonderheiten heraus, wobei er überwiegend in Paris bleibt und die Provinz, einen Nebenakteur, der als Resonanzboden einer kulturellen Revolution gleichwohl bedeutend war, ausspart. Frankreich wurde in den Worten eines hohen Beamten ". . . nicht verwaltet. Die großen Dienste hatten jede Aktivität eingestellt, die Minister konnten mit den Vertretungen in den Departements nichts mehr anfangen, die Kommunikation war durch die Streiks schwierig geworden."

Der Durchbruch der Mai-Revolte war zwei Faktoren zu verdanken: "Zum einen sorgte die Verbindung von konkreten Anliegen der Studierenden mit den großen Problemen der Gesellschaft, die Daniel Cohn-Bendit durch rhetorisch geschickte Inszenierungen herzustellen wusste, für eine rasche Ausbreitung des Protests über die ideologisch geprägten und untereinander zerstrittenen linken Gruppierungen hinaus. Zum anderen führten ungeschickte Reaktionen der universitären und staatlichen Obrigkeit, gegen die sich die Proteste richteten, zu einer Eskalation des Konflikts, die mit zunehmender Politisierung und Ausweitung des Sympathisantenkreises einherging. Der Rektor der Sorbonne ist hier zu nennen, der ohne Not die Polizei auf das Universitätsgelände rief; der Einsatzleiter, der nicht zu kommunizieren wusste, dass keine Verhaftungen geplant waren; Innenminister Fouchet, der die Ereignisse im Lichte der Erfahrungen von 1934 - als die extreme Rechte auf die Nationalversammlung marschiert war - fehldeutete; und Erziehungsminister Peyrefitte, der in der "Nacht der Barrikaden" nicht erkannte, mit wem er eine Verständigung erzielen konnte. Darüber hinaus spielte in den kritischen Momenten immer wieder auch der Einfluss von Staatspräsident de Gaulle eine Rolle, der einem patriarchalischen und damit letztlich autoritären Staatsverständnis verhaftet blieb."

Stalins Kinder eigneten sich die fremde Revolte an und wirkten als Ordnungsmacht

Dass der studentische Protest in Frankreich breitere Unterstützung erfuhr als anderswo und über die Universitäten hinausgriff, lag für Loth an personellen und medialen Faktoren: "Strategisch erfahrene Führer . . . verstanden es, die unmittelbaren Ziele des Protests so zu formulieren, dass sie ein Höchstmaß an Solidarität mobilisieren konnten und die Regierung in den Augen der öffentlichen Meinung ins Unrecht setzten. Sodann sorgte die landesweite Übertragung der Nacht der Barrikaden dafür, dass diese Mobilisierung praktisch jedermann erreichte und einen Anstoß zum Transfer auf die eigenen Lebensverhältnisse gab." Eher widerwillig trugen dazu die von den Linksradikalen vehement abgelehnte kommunistische Gewerkschaft CGT und die KPF bei, welche die libertäre Dynamik verabscheuten, mit der Ausrufung des Generalstreiks aber für die in anderen Ländern (außer Italien) unterbliebene Diffusion in die Arbeiterschaft hinein sorgte. Stalins Kinder eigneten sich die fremde Revolte an und wirkten als Ordnungsmacht.

Auch die "Enragierten" lenkten ein, Ende Juni 1968 schien alles vorbei zu sein. Nachdem der Premier über seinen Vorgesetzten schon hatte spotten können: "Der General existiert nicht mehr, de Gaulle ist tot, da ist nichts mehr" (und dieser mit seinem mysteriösen Verschwinden zum Militär nach Baden-Baden seine Fixierung auf eine untergegangene Welt bewies), adjustierte sich die Staatsmacht in einem doppelköpfigen System, das zehn Jahre später die Linksunion aus Mitterrands Sozialisten und den "Eurokommunisten" hervorbrachte und heute, mit der Bewegung des damals erst geborenen Präsidenten Emmanuel Macron, von der Mitte aus zerfasert.

Insofern ist es mehr als nur eine Ironie der Geschichte, wenn Macron sich mit dem Anführer der Revolte, dem Europäer Cohn-Bendit, so gut versteht und sich verbündet.

Claus Leggewie ist Politologe und Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen.

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