Hochschulen in der Pandemie:Aus dem Hörsaal, aus dem Sinn

Antonia Winkler

"Ich sitze seit einem Jahr hier und starre auf meinen Bildschirm": Antonia Winkler studiert Volkswirtschaft in Heidelberg und hat die Protestaktion #OnlineLeere mitorganisiert.

(Foto: Josefine Nord)

Nach zwei Semestern Einsamkeit und Frust fordern Studierende aus Heidelberg endlich eine Perspektive - und bekommen immerhin eine Entschuldigung.

Von Claudia Henzler

Ende Februar war es Nicolas Battigge zu viel. Seit Herbst studiert er an der Universität Heidelberg Politikwissenschaft und Germanistik. Die Uni hat er seit dem Studienbeginn kein einziges Mal von innen gesehen. Nach dem ersten Semester fühlte er sich einsam und frustriert. "Man hat ja als Erstsemester gar keine Vorstellung davon, wie Uni ist", sagt der 20-Jährige. "Dass man zum einen so frei ist, zum anderen so viel erfüllen muss. Und ich wusste auch nicht, ob ich der Einzige bin, der damit Probleme hat."

Also hat er eine Petition gestartet. "Ich habe an dem Tag meine letzte Prüfung geschrieben und dachte, das kann so nicht weitergehen." Schnell fand er Mitstreiter, mit denen er die Studierendeninitiative #OnlineLeere gründete. Kurz vor Ostern hat sie auf dem Heidelberger Universitätsplatz zum Protest aufgerufen. Mit Blumen und Kerzen wurde dort um die Präsenzlehre getrauert.

"Es fehlen die fragenden Gesichter der anderen Studierenden"

Antonia Winkler hat die Aktion mitorganisiert und sich mit vielen Leuten unterhalten, die vorbeigelaufen sind. "Die haben alle sehr positiv reagiert", sagt sie. "Eine Frau hat gesagt: Ihr könntet noch viel lauter sein." Für die 19-jährige Studentin der Volkswirtschaft beginnt an diesem Montag das vierte Semester. Sie hat noch ein halbes Jahr Präsenzbetrieb erlebt und kennt deshalb zumindest einige Kommilitonen persönlich. Trotzdem war das letzte Jahr auch für sie hart. "Ich bin so einsam", sagt sie. "Ich sitze seit einem Jahr hier und starre auf meinen Bildschirm." Man sei völlig auf sich allein gestellt. "Es fehlen auch die fragenden Gesichter der anderen Studierenden."

Es gibt Dozenten, die ihren virtuellen Konferenzraum nach einer Vorlesung offen lassen, damit sich die Teilnehmer unterhalten können. Es gibt Lehrende, die darauf bestehen, dass alle ihre Kameras einschalten. Sie sind aber offenbar nicht die Regel. Viele Vorlesungen werden nicht live gehalten, sondern zum Download bereitgestellt - und bei Tutorien starren die Teilnehmer oft auf schwarze Kacheln.

Hinzu kommt, dass eine Generation politische Entscheidungen trifft, der die heutigen Studienbedingungen mit hohem Zeit- und Erfolgsdruck weitgehend fremd sind.

Bei den Konferenzen der Ministerpräsidenten spielen Studierende keine Rolle

"In den Bund-Länder-Beschlüssen gibt es kein Wort zu uns und unserer Situation", kritisiert Nicolas Battigge. Die Initiative #OnlineLeere fordert deshalb, dass Studierende in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden werden. Vor allem aber wünscht sie sich eine Perspektive - zum Beispiel in Form eines Stufenplans für die Rückkehr in den Präsenzbetrieb.

Kurz vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg hat die Diskussion in Heidelberg an Schärfe gewonnen - was kurioserweise daran lag, dass Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sich die Sorgen von Studierenden anhörte. Wissenschaftsministerin Theresia Bauer, die sich in Heidelberg als Direktkandidatin der Grünen zur Wahl stellte, hatte zu einer Videokonferenz eingeladen, bei der fünf Studierende aus ihrem Wahlkreis dem Ministerpräsidenten von ihrem Alltag berichten konnten. Ein paar Journalisten waren ebenfalls zugeschaltet.

Kretschmann lässt die Bibliotheken öffnen und wird trotzdem heftig kritisiert

Die Erfahrungsberichte der Studentinnen und Studenten beeindruckten Kretschmann deutlich. "Ich muss schon sagen, dass ich jetzt ein bisschen ein schlechtes Gewissen habe", sagte er. Die Politik habe die Studierenden zu wenig im Blick gehabt, und das bedaure er. Wie sehr ihn dieses Versäumnis beschäftigte, zeigte sich am nächsten Tag, als er bei einem weiteren Wahlkampftermin noch einmal auf das Treffen mit den Studierenden zu sprechen kam.

Die Videokonferenz hatte auch praktische Auswirkungen: Die Landesregierung beschloss unmittelbar danach, dass Bibliotheken wieder öffnen dürfen, und räumte Hochschulen ausdrücklich die Möglichkeit ein, Präsenzveranstaltungen für Studienanfänger anzubieten. Drittens, auch das hatte Kretschmann bei dem Treffen angekündigt, wurden die Studierenden zu einem Gespräch mit Staatsrätin Gisela Erler eingeladen, die in Kretschmanns Kabinett für das Thema Bürgerbeteiligung zuständig ist.

"Ich habe im Gespräch mit Herrn Kretschmann gemerkt, wie fern er uns Studierenden ist"

Eine gute Bilanz eigentlich. Trotzdem ist Xenia Quaas damals mit gemischten Gefühlen aus dem Gespräch gegangen. Die 21-Jährige studiert Molekulare Biotechnologie und beginnt in dieser Woche ihr viertes Semester. "Ich hatte schon das Gefühl, dass wir etwas bewirken konnten", sagt sie. Es sei aber frustrierend gewesen, nach einem Jahr Pandemie zu merken, dass der Ministerpräsident wenig bis gar keine Vorstellung davon habe, in welcher Situation sich die junge Generation an den Universitäten befindet.

Viele Probleme, die für sie und ihre Kommilitonen völlig offensichtlich seien, waren dem 72-Jährigen, dessen Studienzeit an der Universität Hohenheim schon lange zurückliegt, fremd: Dass etwa Bibliotheken ruhige Lern- und Zufluchtsorte für Studierende sind, die in lauten Wohngemeinschaften leben. Dass manchen das Geld für eine Computerausrüstung fehlt, die digitales Lernen erträglich macht. "Ich habe im Gespräch mit Herrn Kretschmann gemerkt, wie fern er uns Studierenden ist", sagt Xenia Quaas.

In Heidelberg hat das Treffen hohe Wellen geschlagen, weil Kretschmann in einem Zeitungsbericht mit der Aussage zitiert wurde, die Studierenden müssten ihre Situation nur mit der anderer vergleichen, dann würden sie sehen, "dass es keinen Grund dafür gibt, depressiv zu werden".

Die Medizinstudentin Julia Gellert findet es bedauerlich, dass dieses Zitat viral ging. "Das ist bei vielen Leuten hängen geblieben - aber sie haben nicht registriert, dass die Unibibliothek wegen dieses Gesprächs wieder aufgemacht hat." Die 22-Jährige hat das Gespräch als angenehm empfunden, auch wenn sie Kretschmanns Reaktion anfangs schwer einschätzen konnte. "Zwischendurch war ich mir nicht sicher, wie viel ankommt. Ich war dann wirklich positiv überrascht, dass ich am nächsten Tag einen Anruf vom Ministerium bekommen habe mit einer Rückfrage."

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