Süddeutsche Zeitung

Strenge Gesetze in US-Bundesstaaten:Wählen extrakompliziert gemacht

Die Republikaner fordern, dass Amerikaner nur wählen dürfen, wenn sie einen Foto-Ausweis vorlegen. Was angeblich "Wahlbetrug" verhindern soll, benachteiligt Arme, Schwarze und Latinos.

Von Matthias Kolb, Washington

Die Botschaft der Richterin war eindeutig. Das Wahlgesetz in Texas sei verfassungswidrig, weil es arme Bürger, Schwarze und Latinos benachteilige, schrieb Nelva Gonzalez Ramos in ihrer Begründung. Das Ziel, Wahlbetrug zu verhindern, rechtfertige keineswegs die Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppen, so Ramos. Es erinnere sie an die Zeit der Rassentrennung, als eine poll tax Afroamerikaner abschrecken sollten. Ähnliche Vergleiche hatte auch der scheidende US-Justizminister Eric Holder gezogen.

Anders als im 19. Jahrhundert müssen Wähler in den USA heute keine Gebühr bezahlen, aber seit 2003 verabschieden immer mehr Bundesstaaten Gesetze, die verlangen, dass die Bürger am Wahltag ein Dokument mit Lichtbild vorlegen. Heute haben 30 Staaten solche Regeln und sie wurden fast alle mit republikanischen Mehrheiten verabschiedet.

Vor der Kongresswahl am 4. November sorgen mehrere, teils widersprüchliche Gerichtsurteile für viel Diskussionen (die Entscheidung der texanischen Richterin Ramos wurde von der nächsthöheren Instanz blockiert). Konservative warnen vor Wahlbetrug, während die Demokraten von Rassismus sprechen. Obamas Partei weiß natürlich, dass sie bei Schwarzen, Latinos, Studenten und ärmeren Bürgern beliebt ist und beklagt diese Benachteiligung. Auch Zeitungen melden sich zu Wort. Die Washington Post fordert die Republikaner per Leitartikel auf, ihre "enormen Bemühungen" zu beenden, das Stimmrecht mancher Mitbürger zu unterdrücken.

Dass den Republikanern Kalkül unterstellt wird, liegt daran, dass sich nirgends sich Beweise finden, dass in den USA Wahlbetrug stattfindet. Eine Studie aus dem Jahr 2012 fand zehn Fälle, in denen sich ein Wähler als jemand anders ausgab - von 15 Millionen Wählern also ein einziger. Die New York Times schrieb 2007 von 120 Verdachtsfällen in fünf Jahren. Auch in Texas konnte der Justizminister 2012 nur etwa 50 Fälle in seinem Staat benennen.

Ein Überblick auf die umstrittensten Inhalte der Wahlgesetze und ihre möglichen Auswirkungen:

  • "Ausweispflicht": Sehr häufig wird in den neuen Vorgaben festgeschrieben, dass sich die Wähler mit einem Führerschein, Pass oder einem anderem photo ID ausweisen müssen. Manche Staaten akzeptieren auch einen Kontoauszug oder eine Stromrechnung. Kritiker weisen auf die Kosten hin: Selbst wenn die Dokumente an sich kostenlos sind, gibt es dafür benötigten Kopien von Geburtsurkunden nicht umsonst. Betroffen sind also: Arme, alte Menschen, Minderheiten und auch Amerikaner, die auf dem Land weit entfernt von Behörden leben. Einer Studie des New Yorker Brennan Centers zufolge 2012 haben 11 Prozent aller Amerikaner keinen Foto-Ausweis - das sind 21 Millionen Menschen.
  • Umständliche Registrierung neuer Wähler: Einige Staaten erschweren es neuen Bürgern, sich dort registrieren zu lassen. Mitunter wurden Gesetze beschlossen, wonach ein Studentenausweis nicht als photo ID (siehe oben) genügt. Das Ziel ist offenbar, dass die - meistens liberalen - Studenten in ihrem Heimatstaat abstimmen. Ansonsten gilt ein typisch amerikanisches Prinzip: 50 Bundesstaaten, 50 unterschiedliche Regeln. Eine Pew-Studie hielt 2013 fest, dass es etwa in North Dakota gar keine Meldepflicht gibt. In Alabama und Kansas wurden nur 0,05 Prozent der neuen Meldenträge abgelehnt - in Pennsylvania und Indiana waren es mehr als jeder zweite.

Die Folgen dieser verschiedenen Maßnahmen sind sehr schwer zu messen - schließlich weiß niemand, ob manche Wähler wegen der neuen Gesetze ihre Stimme nicht abgegeben haben oder ob sie krank oder desillusioniert waren. Ein Bericht des unabhängigen Government Accountability Office analysierte kürzlich die Situation in Kansas und Tennessee und errechnete, dass die Wahlbeteiligung 2012 (nach Einführung der Ausweispflicht) vor allem bei jungen Menschen und unter Schwarzen zurückgegangen sei. Insgesamt sei der Wert um knapp zwei Prozent zurückgegangen.

Beobachter wie Ross Douthat von der New York Times behaupten gar, dass die Republikaner mit den strengen Auflagen das Gegenteil erreichen: Dadurch falle es den Demokraten leichter, gerade Afroamerikaner an die Urnen zu bringen, weil sie so gegen diese neue Benachteiligung protestieren könnten. 2012 gaben im Verhältnis zum jeweiligen Anteil an registrierten Wählern prozentual erstmals mehr Schwarze als Weiße ihre Stimme ab.

Ist die ganze Aufregung also übertrieben? Nicht wirklich, denn die neuen Wahlgesetze zeigen, wie vergiftet das Klima in Amerikas Politik ist und dass beiden Parteien jedes Mittel recht ist, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Ein echter Dialog findet hier - wie bei vielen Themen - nicht statt. Die Debatte ist hitzig und voller Vorwürfe, aber sie rührt nicht an den Grundzügen des Wahlsystems. Das macht deutlich, dass es nicht darum geht, mehr Amerikaner dazu zu bringen, ihre Stimme abzugeben. Denn beide Parteien scheinen grundsätzlich überzeugt zu sein, für sich bessere Wahlergebnisse im bestehenden System erreichen zu können.

Dabei wäre es leicht, die niedrige Wahlbeteiligung (bei der Kongresswahl 2010 lag sie bei mickrigen 40 Prozent) zu erhöhen: Der Kongress müsste den Wahltag vom ersten Dienstag im November auf einen Sonntag legen. Denn heute wissen nicht mal die Politiker, dass der Wahltag auf ein Gesetz aus dem Jahr 1845 zurückgeht. Der Dienstag wurde damals gewählt, um die Landbevölkerung nicht beim Kirchgang zu stören.

Linktipps:

  • "Alles, was Sie jemals über 'Voter ID laws' wissen wollten": Diese Übersicht von Pro Publica beantwortet wirklich fast alle Fragen.
  • Der Jurist Hans von Spakovsky von der Heritage Foundation schildert in diesem Text die konservative Sicht, wonach Wahlbetrug ein großes Problem in Amerika ist.
  • Eine typische liberale Sicht vertritt Alec MacGillis in diesem Text des New Republic.
  • "Das Biest lebt": SZ-Korrespondent Nicolas Richter kommentiert eine umstrittene Wahlrecht-Entscheidung des Supreme Court aus dem Frühjahr 2013.

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