Süddeutsche Zeitung

Streit ums Kirchenasyl:Härte gegenüber Härtefällen

  • Vertreter der Kirchen kritisieren, dass im Umgang mit humanitären Härtefällen unter Flüchtlingen die Menschlichkeit zunehmend auf der Strecke bleibe.
  • Flüchtlinge, die das Kirchenasyl auf Anweisung nicht verlassen, stuft das Asylbundesamt seit August als "flüchtig" ein - auch wenn es deren Anschrift kennt.
  • Die iranische Familie Ariyayi lebt seit Anfang November im Kapzuinerkloster Sankt Konrad in Altötting. Das Ringen um ihre Zukunft steht stellvertretend für den Kampf ums Kirchenasyl.

Von Bernd Kastner, Altötting

Die Familie ist "flüchtig". Das hat man ihr amtlich bescheinigt, als müsste man sie suchen, um ihrer habhaft zu werden. Dabei gilt es nur aufzupassen, auf dem Weg nicht die Orientierung zu verlieren zwischen Gnadenkapelle und Stiftspfarrkirche. Am besten, man biegt, von der Bahnhofstraße kommend, links in die Marien-, dann rechts in die Kapuzinerstraße ab. Wenn die päpstliche Basilika Sankt Anna auftaucht, ist man am Ziel: Kapuzinerkloster Sankt Konrad in Altötting.

Hier, im größten Wallfahrtsort Deutschlands, lebt die iranische Familie Ariyayi im Kirchenasyl, seit Anfang November. Hier lässt sich exemplarisch ein Konflikt beschreiben, der einen Keil zwischen viele Christen und den Staat treibt. Kirchenleute kritisieren, dass die Menschlichkeit auf der Strecke bleibe im Umgang mit humanitären Härtefällen unter den Flüchtlingen.

Auch das Asylbundesamt (Bamf) kennt die Adresse der Familie Ariyayi (Name geändert), und doch stellt sie die Eltern mit ihren beiden Kindern auf eine Stufe mit Untergetauchten. Der 18-jährige Sohn der Familie ist schwerstbehindert, geistig und körperlich. Er, seine Eltern und die 16-jährige Schwester bräuchten dringend adäquate Hilfe. Die aber gibt es nicht im Kloster, und erst recht nicht in Bulgarien.

Dorthin will das Bamf die Familie schicken. Durch Bulgarien kam sie auf ihrer Flucht, weshalb das Land für das Asylgesuch der Familie zuständig wäre. Doch dort, so berichten die Eltern, haben sie schreckliche zwei Monate durchlitten: "Es war die schlimmste Zeit, die wir jemals erlebt haben." Sie erzählen von unmenschlicher Behandlung, von katastrophalen Unterkünften, worunter vor allem ihr Sohn gelitten habe, der auch nicht annähernd angemessen zu versorgen war.

Worum sie bitten: dass Deutschland ihr Asylverfahren übernimmt. Um das zu erreichen, müsste die Familie wohl noch ein Jahr lang im Kloster ausharren. Aus Iran waren sie geflohen, weil der Vater sich nicht am Krieg in Syrien beteiligen wollte.

Das Ringen um die Zukunft der Familie Ariyayi steht stellvertretend für den Kampf ums Kirchenasyl. Der wird zwischen den beiden großen Kirchen und dem Staat ausgefochten.

Selbst Seehofer hat sich kürzlich zum Kirchenasyl bekannt

Zwar hat sich kürzlich selbst Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) im Interview mit dem evangelischen Magazin Zeitzeichen zum Kirchenasyl bekannt: "Ich respektiere als Christ die Tradition des Kirchenasyls, und ich betrachte das Kirchenasyl als hilfreiche und erhaltenswerte 'Ultima Ratio' in besonders gelagerten Härtefällen." Dennoch zweifeln am ernsthaften Willen des Staates, in humanitären Notlagen menschlich zu handeln, immer mehr Kirchenleute.

Fünf evangelische Landeskirchen kritisieren in einem internen Papier, dass viele dem Bamf vorgelegte Kirchenasyl-Fälle "eine unvoreingenommene ernsthafte Neubetrachtung (. . .) unter humanitären Gesichtspunkten vermissen lassen". Das Bamf, fordern sie, müsse sich "konsequent an den Belangen der Humanität" orientieren.

Auf ihrer Synode im November hat die Evangelische Kirche in Deutschland eine zentrale Neuregelung als "rechtswidrig" eingestuft: Flüchtlinge, die das Kirchenasyl auf Anweisung nicht verlassen, gelten seit August als "flüchtig". Das führt dazu, dass eine Abschiebung in ein europäisches Land gemäß Dublin-Verordnung nicht mehr sechs, sondern 18 Monate lang möglich ist. Um sie zu verhindern, muss das Kirchenasyl nun ebenso lange dauern.

Mehrere evangelische Landeskirchen überlegen, so ist zu hören, dem Staat keine Dossiers mehr vorzulegen. Bringt nichts, sagen sie. Diese vom Bamf geforderten umfangreichen Papiere mit der Begründung fürs Kirchenasyl machten den Helfern viel Arbeit, doch das Bamf gewichte humanitäre Gründe selten ausreichend. "Wir kriegen selbst die krassesten Härtefälle nicht mehr durch", sagt Pastorin Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche und Vorsitzende der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche.

Warum Menschen als "flüchtig" gelten, obwohl das Amt ihre Adresse kennt

Das Bamf verteidigt sein Agieren. Die Regeln zu verschärfen sei nötig gewesen, um "Sinn und Zweck" des vereinbarten Verfahrens zu erfüllen, nämlich "besondere, außergewöhnliche Härten" zu prüfen und zu erkennen. Die Kirchengemeinden hätten sich in der Vergangenheit zu oft nicht an die Regeln gehalten: Die Kirchenasyl-Koordinatoren seien häufig nicht eingeschaltet worden, "zu wenige Dossiers wurden eingereicht und das Ergebnis der Prüfung wurde nicht akzeptiert". Die einmonatige Frist, ein Dossier einzureichen, sei "angemessen", das Bamf prüfe die Fälle "ergebnisoffen".

Warum Menschen als "flüchtig" gelten, obwohl das Amt ihre Adresse kennt, erklärt das Bamf mit einer Begriffsdefinition gemäß Dublin-Regelung: "Flüchtig" sei einer, wenn er sich "zielgerichtet" dem Staat entziehe und so seine Abschiebung zu verhindern versuche.

Die Frage, ob Schutzsuchende im Kirchenasyl "flüchtig" sind, ist ein Streitpunkt vor Gericht: Beide Seiten, Bamf wie Kirchen, verweisen auf Gerichtsurteile zu ihren Gunsten. Auch im Fall der iranischen Familie in Altötting wird über diese Frage bald ein Gericht entscheiden.

Frist und Tücke

Etwa 550 Fälle von Kirchenasyl mit mindestens 880 Personen sind der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche derzeit bekannt. Kirchenasyl ist in keinem Gesetz verankert, es ist christliche Tradition, die der Staat toleriert. Er scheut sich davor, Flüchtlinge mit Polizeigewalt aus kirchlichen Räumen zu holen. Fast immer wollen die Gemeinden erreichen, dass die beherbergten Flüchtlinge nicht in ein anderes europäisches Land zurückgeschickt werden, das gemäß der Dublin-Regeln für deren Asylgesuch zuständig wäre. Sie wollen, dass Deutschland das Asyl-Verfahren übernimmt. Staat und Kirchen haben sich Anfang 2015 auf Regeln zum Kirchenasyl verständigt, die zum August 2018 verschärft wurden. Die wichtigsten Punkte: Am ersten Tag muss die Gemeinde das Kirchenasyl dem Bamf melden. Innerhalb eines Monats muss ein "aussagekräftiges Dossier" eingereicht werden, in dem der humanitäre Härtefall als Grund für die Aufnahme in Kirchenräumen dargelegt wird. Schließt sich das Bamf dem an, übernimmt es das Asylverfahren. Wenn nicht, müssen die Flüchtlinge binnen drei Tagen das Kirchenasyl verlassen. Tun die Flüchtlinge das nicht, wird die "Dublin-Frist" relevant, die heftig umstritten ist zwischen Kirchen und Staat. Deutschland muss einen Flüchtling binnen sechs Monaten an den laut der Dublin-Regeln zuständigen europäischen Staat überstellt haben. Verstreicht diese Frist, wird Deutschland für das Asylverfahren zuständig. Dies bedeutete bisher, dass Flüchtlinge maximal ein halbes Jahr im Kirchenasyl bleiben mussten. Seit August gilt nach einem Beschluss der Innenministerkonferenz eine Frist von 18 Monaten: Flüchtlinge im Kirchenasyl gelten nun formal als "flüchtig". Dies bedeutet, dass sie nun bis zu eineinhalb Jahre in Gemeinderäumen ausharren müssen, um ihre Abschiebung zu verhindern. Seit Beginn der Erfassung 2016 war die Zahl der Kirchenasyle stetig angestiegen, im zweiten Halbjahr 2018 sinkt sie nun erstmals. Im gesamten Jahr 2018 hat das Bamf in 13 Prozent der Kirchenasyle einen humanitären Härtefall anerkannt. Bernd Kastner

Diakon Thomas Zugehör ist enttäuscht vom Staat. "Wenn sich Deutschland nicht mehr leisten kann, mit diesen Menschen humanitär umzugehen, frage ich mich: Wo sind wir denn?" Von acht Dossiers, die er für die evangelische Landeskirche Bayern seit August eingereicht habe, seien sieben abgelehnt worden. In der staatlichen Härte gegenüber vielen Härtefällen erkennt er "eine Kultur, die auf Dauer schlimme Folgen haben wird". Zugehör appelliert an die Verantwortlichen im Bamf, nicht nur die Akten zu lesen: "Das sind Menschen!"

Vor allem in der evangelischen Kirche ist die Empörung groß. Hört man sich um unter denen, die sich für humanitäre Härtefälle engagieren, erfährt man von einem Zehnjährigen, der an metastasierendem Hautkrebs leidet und nach Italien abgeschoben werden soll. Oder von einer Nigerianerin, die aus einem libyschen Bordell entkommen war und ebenfalls nach Italien zurück soll, in das Land, wo sie erneut in die Prostitution gezwungen worden sei.

Bettina Nickel, Vize-Chefin des katholischen Büros Bayern und eine der Kirchenasylbeauftragten, will das Bamf nicht pauschal verurteilen. Ja, sagt sie, es gebe auch amtliche Ablehnungen, die nachzuvollziehen seien. Aber auch sie kritisiert: Während bis vor einigen Monaten Opfer von Menschenhandel oder Psychiatriepatienten meist in Deutschland hätten bleiben dürfen, sollen inzwischen auch diese Menschen abgeschoben werden.

Den Fall der Familie Ariyayi nennt Nickel eine "himmelschreiende Ungerechtigkeit". Sie erinnert daran, dass Behörden immer einen Ermessensspielraum haben.

In Altötting ist Bruder Jeremias der wohl wichtigste Mensch für die Ariyayis. Der Kapuzinermönch betreut sie im Kirchenasyl, er sitzt mit am Tisch, als sie von ihrem Leben in Bulgarien erzählen: von einer Polizeistation, wo sie einen Tag lang ohne Essen und Zugang zu Toiletten verbracht hätten, ohne Rücksicht auf den Sohn. Er habe laut geschrien, getobt und in die Hose gemacht. Die Familie schildert die Zeit als einzigen Albtraum.

Bruder Jeremias hat schon diverse Kirchenasyle zu einem guten Ende gebracht, noch nie waren er und "seine" Schützlinge so am Ende ihrer Nerven wie jetzt. Als die Bitte der Familie Ariyayi ihn erreichte, wusste er, dass es sehr schwierig wird, wegen des Sohnes. "Wenn wir es nicht gemacht hätten, wer hätte es dann gemacht? Hätten wir sagen sollen, wir nehmen sie nicht?" fragt er. "Wir müssen uns zusammenreißen."

Kurz nachdem die Familie ins Kloster gezogen war, standen Polizisten vor ihrer bisherigen Unterkunft, um sie nach Bulgarien zu bringen. Bulgarien? "Das wäre wahrscheinlich der Tod für den Jungen", sagt Bruder Jeremias.

Ahoura Ariyayi, der junge Mann, kann nicht sprechen, sich kaum artikulieren, er darf keine Minute allein gelassen werden, ist ständig in Bewegung. Während des Gesprächs mit der SZ behütet ihn seine 16-jährige Schwester, oben, im Wohntrakt der Mönche, wo die Familie in zwei Zimmern lebt.

Bruder Jeremias holt ein ärztliches Attest aus einem Ordner. "Ahoura ist nicht steuerbar (. . .), ist rastlos, schmeißt Gegenstände", hat der Arzt notiert. "Extrem schwierig" sei es, den jungen Mann zu führen, er brauche "ständige Beaufsichtigung". Der Kapuziner legt das Schreiben des Asylbundesamtes daneben.

Absage per Textbaustein

Es lehnt darin ab, die Familie als Härtefall einzustufen, weder die Erfahrungen in Bulgarien noch die Behinderung zählen: "Nach eingehender Prüfung können keine besonderen Umstände des Einzelfalls und daraus resultierende Vollzugshindernisse zur Vermeidung von besonderen humanitären Härten zu Gunsten von Herrn Ariyayi und seiner Familie festgestellt werden", steht im zweiten Absatz. Es ist ein Textbaustein.

Der Staat widerspricht sich zudem selbst: Einerseits erklärt das Bamf, "Vulnerable", also besonders verletzliche und schutzbedürftige Menschen, würden nicht nach Bulgarien zurückgeschickt, wegen der mangelhaften Unterbringung dort; und das Verwaltungsgericht Ansbach stellt fest: "Als Behinderter gehört (Ahoura Ariyayi) zur besonders geschützten Gruppe der Vulnerabeln." Dennoch wollen ihn Gericht und Bamf nach Bulgarien abgeschoben haben.

Der Mutter kommen die Tränen, als sie überlegt, wie es weitergehen könnte. Bruder Jeremias ist wütend und traurig. Er versteht nicht, dass Deutschland der Familie nicht hilft, eindeutiger könne eine humanitäre Notlage ja nicht sein. "Dass so etwas in Deutschland möglich ist." Er fühle sich hilflos gegenüber dem Staat. "Diese Hilflosigkeit habe ich noch nie so stark gespürt wie jetzt."

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Quelle:
SZ vom 27.12.2018/gal
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