Streit um Verfassungsschützer-Akten im NSU-Prozess:"Was ist mit Ihnen los?"

Der Verfassungsschützer Andreas T. besuchte 2006 ein Kasseler Internetcafé, in dem am selben Tag ein NSU-Mord verübt wurde. Nun soll er im Prozess aussagen - doch die Angehörigen der Opfer wollen erst einmal Klarheit, warum die Bundesanwaltschaft nicht alle Akten freigibt.

Aus dem Gericht berichtet Tanjev Schultz

Im NSU-Prozess läuft es am Dienstag ein bisschen anders als sonst. Es beginnt damit, dass Beate Zschäpe einen weißen Verband an der rechten Hand trägt, als sie den Gerichtssaal betritt. Vor allem ihr Zeigefinger ist dick eingewickelt, offenbar hat sie sich dort verletzt. Dennoch scheint ihre Laune nicht allzu schlecht zu sein, jedenfalls scherzt sie zu Beginn ein wenig mit ihren Anwälten. Dann klappt sie wie gewohnt ihren Laptop auf, was mit dem klobigen Verband an der Hand ein bisschen umständlich ist.

Als es dann losgeht hat sie durchaus Grund, etwas gelöster zu sein. Denn an diesem Tag steht nicht so sehr die Hauptangeklagte Zschäpe im Zentrum, sondern ein ehemaliger Verfassungsschützer - und plötzlich auch die Bundesanwaltschaft. Die Nebenklage-Vertreter proben an diesem 63. Verhandlungstag einen kleinen Aufstand und verlangen von den Staatsanwälten sogar dienstliche Erklärungen.

Eigentlich sollte am Morgen gleich der Zeuge Andreas T. aufgerufen werden. Er ist der Mann, der am 6. April 2006 in jenem Internetcafé in Kassel saß und sich in einem Flirtforum herumtrieb, als dort zu dieser Zeit oder kurz danach der Betreiber des Ladens, Halit Yozgat, erschossen wurde.

Die Mörder, da sind sich die Ermittler mittlerweile sicher, kamen vom NSU. Es sollen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gewesen sein. Doch die Rolle des Verfassungsschützers Andreas T. regt immer wieder die Phantasie an und wirft bis heute viele Fragen auf. Zeitweise war er damals sogar Beschuldigter. Immer wieder hat er beteuert, er habe nichts gesehen oder gehört.

Material für Verschwörungstheorien

Viele Nebenklage-Vertreter und Opfer-Angehörige halten die Aussagen des Beamten, der längst in eine andere Behörde versetzt wurde, für unglaubwürdig. Mehrmals hat sich Andreas T. in Widersprüche verwickelt. Selbst wenn er mit der Tat selbst nichts zu tun hatte, halten es viele für wahrscheinlich, dass er irgendetwas von dem Mord mitbekommen haben müsste. Deshalb wollen die Anwälte sämtliche Akten zu Andreas T. in das NSU-Verfahren einbeziehen. Das jedoch hat das Gericht abgelehnt.

Am Dienstag wehren sich die Anwälte, die unter anderem die Eltern von Halit Yozgat vertreten, mit allen Mitteln gegen den restriktiven Umgang mit Akten. Sie beklagen, dass sie zwar beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe Einsicht in alle Unterlagen nehmen könnten, aber mittlerweile keinerlei Kopien mehr bekämen.

Die Bundesanwälte sollten deshalb darlegen, ob etwa Verfassungsschutzämter hinter dieser Behinderung steckten. Als Rechtsanwalt Alexander Kienzle, der die Familie Yozgat vertritt, Heiterkeit auf der Bank der Bundesanwälte wahrnimmt, sagt er ernst und drohend: "Lachen Sie nicht!"

Bundesanwaltschaft reagiert prompt

Kienzles Ansicht nach hat auch das Gericht deutlich gemacht, dass es eine umfassende Aufklärung der Tat in Kassel nicht wünscht. "Der Senat darf jetzt nicht auf halber Strecke stehen bleiben", appelliert er an die Richter, doch noch einzulenken.

Der Senat riskiere, dass über die Tat in Kassel und die Mordserie des NSU von "interessierten Kreisen" Legenden verbreitet werden - eine Anspielung darauf, dass den Neonazis der Verdacht gegen Andreas T. und den Verfassungsschutz wie gerufen kommt, um von sich selbst abzulenken und den NSU als angebliches Konstrukt des Staates darzustellen. Die Nebenkläger halten den Aktenstreit zudem für einen möglichen Revisionsgrund.

Die Bundesanwaltschaft reagiert prompt - und zeigt sich unnachgiebig. "Wir halten an allen Einzelheiten fest", sagt Bundesanwalt Herbert Diemer. Er verweist darauf, dass die Vertreter der Nebenklage alle Akten einsehen könnten, sie stünden vollständig zur Verfügung. Und die Anwälte könnten auch persönliche Notizen fertigen.

Dass die Dokumente nicht herausgegeben werden, begründete Diemer einmal mehr mit dem Persönlichkeitsschutz - und zwar nicht dem Schutz von Andreas T., sondern auch anderer beteiligter Personen. Die Akten enthalten unter anderem die Protokolle von umfangreichen Telefonüberwachungen. Davon waren auch Angehörige von Andreas T. betroffen.

Akten bleiben in Karlsruhe

Bevor das Gericht eine Pause einlegt, um darüber zu beraten, ob nun Andreas T. an diesem Tag überhaupt noch gehört werden kann, ziehen die Nebenkläger noch einmal alle Register: Ismail Yozgat, der stets sehr emotional auftretende Vater des Kasseler Opfers, ergreift das Wort und sagt auf Türkisch: "Mein 21-jähriger Sohn hat sein Leben in meinem Armen verloren. Was ist mit Ihnen los, dass Sie in Ihrem eigenen Namen Entscheidungen treffen?"

Es seien andere Akten vernichtet, versteckt, verbrannt worden - als ob das nicht alles ausreichen würde, würden jetzt die Akten zu Andreas T. nicht herausgegeben. "Ich möchte dass die Akten, die meinen Sohn betreffen, alle ans Tageslicht kommen."

Und dann spricht auch noch die Mutter, Ayşe Yozgat. Ihr Leben nach dem Tod des Sohnes "ist zu vergleichen mit dem eines Toten". Die Familie wolle, dass alle Akten offengelegt werden: "Bitte überlegen Sie es sich noch einmal!"

Nach einer längeren Beratung verkündet der Vorsitzende Richter Manfred Götzl den Beschluss: Die Akten bleiben in Karlsruhe bei der Bundesanwaltschaft. Nebenklage-Vertreter könnten die Dokumente dort ja einsehen, und alles Nötige werde in der Hauptverhandlung geklärt werden. Und: Thesen über ein staatliches Mitverschulden bei den NSU-Taten "verlassen das Reich der Spekulation nicht". Die Nebenkläger beraten nun, wie sie auf den Beschluss reagieren wollen.

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