Streit um Stuttgart 21:Nach dem Stresstest ist vor dem Stress

Die Prüfer sind fertig, der Ärger geht weiter: Am Donnerstag übergeben die Schweizer Experten das Gutachten des Stuttgart-21-Stresstests. Sie haben geprüft, ob der geplante Tiefbahnhof wirklich leistungsfähiger ist als der jetzige Kopfbahnhof. Die Gegner drohen mit einem Boykott der Präsentation. Warum? Und wie geht es jetzt weiter? Antworten auf wichtige Fragen.

Michael König

Der Stresstest ist abgeschlossen - was wurde geprüft?

Vorgespräch Stresstest Stuttgart 21

Schlichter Heiner Geißler bei einem Vorgespräch zur Stresstest-Präsentation: Geißler fordert Transparenz, aber die Gegner wollen mehr.

(Foto: dpa)

Die Bahn baut Stuttgart 21 unter der Prämisse, zukünftig einen leistungsfähigeren Hauptbahnhof zu haben. Morgens, in der Hauptverkehrszeit zwischen sieben und acht Uhr, soll er 49 Züge abfertigen können - und mehr. Das wären mindestens 30 Prozent Steigerung gegenüber dem jetzigen Kopfbahnhof, in dem aktuell 37 Züge abgefertigt werden.

Die Gegner halten diese Verbesserung für illusorisch. In der Schlichtung gab es deshalb einen Kompromiss: Die Bahn sollte die Leistungsfähigkeit von S21 mit einer Computersimulation nachweisen. Also erschuf sie mit Hilfe von komplexer Software einen virtuellen Bahnknoten mit Tausenden Weichen, Signalen und Gleisen sowie einen Fahrplan, der für das Jahr 2020 realistisch ist. Bei der Gestaltung hatte die Landesregierung ein Mitspracherecht. Dann wurden 100 Betriebstage simuliert.

Schließlich übergab die Bahn ihre Daten an das renommierte Verkehrsberatungsunternehmen SMA. Die Schweizer Experten durchleuchteten den Stresstest daraufhin auf seine Richtigkeit und Nachvollziehbarkeit. An diesem Donnerstag übergeben sie ihre Bewertung an das Land und die Bahn.

Warum ist der Stresstest so bedeutsam?

Die Schlichtungsverhandlungen im Herbst 2010 waren mehr als nur der Versuch, die Gegner und Befürworter eines geplanten Bahnhofs an einen Tisch zu bekommen. Nicht zuletzt die Deutungshoheit von Schlichter Heiner Geißler ließ daraus ein Demokratiemodell werden, mit Strahlkraft weit über Baden-Württemberg hinaus. Die rekordverdächtigen Einschaltquoten des TV-Senders Phoenix, der die Schlichtung live übertrug, zeugten von einem außerordentlichen Interesse der Bürger.

Am 30. November 2010 verkündete Geißler seinen Schlichterspruch - doch damit war das Modell noch nicht beendet. Die Schlichtung lebte durch den Stresstest weiter. Beide Seiten hatten sich auf ihn als Knackpunkt geeinigt. Von den übrigen Details des Schlichterspruchs - die Umsetzung der Bäume im Schlossgarten, offene Parkflächen im frei werdenden Stadtgebiet - war schnell keine Rede mehr.

Die Hoffnungen der Gegner ruhten fortan auf dem Stresstest. Die Grünen sprachen noch am Abend ihres historischen Wahlsieges über die Chance, ein negatives Ergebnis könne Winfried Kretschmann eine Peinlichkeit ersparen: als grüner Ministerpräsident den Bau von S21 zu begleiten, obwohl ihm die Ablehnung des Projekts das Amt eingebracht hatte.

Auch die Bundespartei wartet gespannt auf das Ergebnis. Manch einer ihrer führenden Köpfe möchte derzeit lieber kein Interview geben, bevor klar ist, zu welcher Einschätzung die Gutachter gekommen sind. Zu groß scheint die Gefahr, dass den Grünen nach dem Atomausstieg ein weiteres Thema abhandenkommen könnte. Als Partei mit Regierungsambition können sie sich keine Fundamental-Opposition leisten. Das war bei Angela Merkels Energiewende so, und das wäre bei einem positiven Gutachten und einem Plazet von Heiner Geißler wohl nicht anders.

Aber auch für Union und FDP ist der Stresstest von Bedeutung: Sie könnten ein positives Urteil als Beweis dafür verwenden, dass die schwarz-gelbe Vorgängerregierung in Baden-Württemberg recht damit hatte, an S21 festzuhalten - obwohl die eigenen Beamten des damals zuständigen Innenministeriums Zweifel formuliert hatten.

Warum die Bahn zuversichtlich ist

Mit welchem Ergebnis rechnet die Bahn?

Vorgespräch Stresstest Stuttgart 21

Der Stuttgarter Stadtrat Hannes Rockenbauch (links) und Schlichter Heiner Geißler bei einem Vorgespräch zur Stresstest-Präsentation: Geißler fordert Transparenz, aber die Gegner wollen mehr.

(Foto: dpa)

Die Bahn ist zuversichtlich. Ende Juni sickerte durch, dass der Konzern den Test für bestanden hält - kleinere Nachbesserungen vorausgesetzt. Eine offizielle Bestätigung gab es dafür nicht, jedoch wies das Unternehmen immer wieder darauf hin, bis Ende Juli Bauaufträge vergeben zu müssen. Das spricht nicht dafür, dass der Bahn durch den Stresstest Zweifel gekommen sind.

Der Konzern hofft darauf, eine Phase beenden zu können, in der nur kosmetische Arbeiten an S21 möglich waren. Aus Rücksicht auf die Gegner und die durch den Stresstest fortgesetzte Schlichtung, aber vermutlich auch um des eigenen Rufes willen, verzichtete die Bahn auf Bauarbeiten mit schwerem Gerät. Sie hätten den Protest der Gegner wieder anfachen und die Stimmung erneut gegen das Projekt kippen lassen können.

Ein positives Stresstest-Ergebnis könnte hingegen - neben dem Schlichterspruch - als endgültige Legimitation genutzt werden. Die Bagger könnten endlich rollen. Und Bahnchef Rüdiger Grube hätte ein leidiges Thema weniger auf seiner Agenda.

Warum gehen die Gegner von einem negativen Ergebnis aus?

Die Gegner beharren darauf, dass S21 mit seinen acht Gleisen nicht leistungsfähiger sein kann als der bestehende Kopfbahnhof mit 16 Gleisen. Sie halten es für erwiesen, dass massive Nachbesserungen nötig wären, um den Tiefbahnhof zukunftsfähig zu machen. Etwa die von Heiner Geißler im Schlichterspruch erwähnten zwei zusätzlichen Gleise. Sie pochen darauf, dass ein modernisierter Kopfbahnhof die billigere und bessere Variante wäre. Auch, weil eine neue Studie dem Argument der Befürworter widerspricht, Stuttgart 21 werde Tausende neuer Jobs schaffen.

Sollten die Verkehrsexperten von SMA zu einem ähnlichen Ergebnis kommen, den Stresstest also für nicht bestanden erachten und/oder viele Nachbesserungen empfehlen, droht das Projekt deutlich teurer zu werden. Die Schmerzgrenze von 4,5 Milliarden Euro würde womöglich überschritten - und die Gegner wären am Ziel.

Ihre Hoffnung: In diesem Fall würde die Bahn Abstand von dem Projekt nehmen und langfristig doch in einen modernisierten Kopfbahnhof investieren. Die Landesregierung hat schon klargemacht, höhere Kosten für S21 keinesfalls mittragen zu wollen.

Streit um die Note "gut"

Stuttgart 21 - Vierte Schlichtungsrunde

Heiner Geißler mit dem Bahn-Vorstandsmitglied Volker Kefer bei der Schlichtung: Ende Juni sickerte durch, dass der Konzern den Stresstest für bestanden hält.

(Foto: dpa)

Worüber wird jetzt noch gestritten?

Der Stresstest ist abgeschlossen, der Stress geht weiter. Seit Wochen verhandeln die Bahn, die Gutachter, Moderator Heiner Geißler und die S21-Gegner darüber, wann und wie die Ergebnisse der Öffentlichkeit präsentiert werden sollen. Einigkeit besteht bislang nur darüber, dass ein Termin in der kommenden Woche gefunden werden soll. Geißler hat außerdem angekündigt, die Präsentation solle live im Internet und im Fernsehen zu sehen sein. Unklarheiten sollen beseitigt werden. Falls noch Fragen offenblieben, müsse das geplante Referendum (siehe unten) eine Entscheidung bringen.

Die Bahn ist mit dem Verfahren offenbar einverstanden. Sie pocht jedoch darauf, dass sie am 31. Juli Bauaufträge vergeben muss, um Fristen einzuhalten und Mehrkosten zu vermeiden.

Dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 geht die von Geißler versprochene Transparenz aber nicht weit genug. Die Gegner werfen der Bahn vor, die in der Schlichtung vereinbarten Regeln verletzt und beim Stresstest getrickst zu haben - etwa durch unrealistische Annahmen beim Fahrplan.

Es geht um Details: So hatte Geißler der Bahn auferlegt, sie müsse nachweisen, "dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich ist". Nun streitet der Konzern mit den Gegnern darüber, was "gut" konkret bedeutet. (Linktipp: Die Stuttgarter Zeitung erklärt die Qualitäts-Abstufungen der Bahn.)

Die Gegner drohen, ganz auf eine Teilnahme an der Präsentation zu verzichten. "Wenn die Bahn nicht einlenkt, steigen wir aus", sagte der Stuttgarter Stadtrat und Bündnissprecher Hannes Rockenbauch. Der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer plädierte Ende Juni im Gespräch mit sueddeutsche.de dafür, den Schlichtungsprozess zu erweitern.

Voraussichtlich am kommenden Dienstag wollen die Gegner über ihre Teilnahme entscheiden. Der S21-Projektsprecher Wolfgang Dietrich kritisierte, das Aktionsbündnis spiele auf Zeit und wolle abwarten, ob das SMA-Testat positiv oder negativ ausfällt.

Wird keine Einigkeit erzielt, könnte die Schlichtung im Nachhinein noch scheitern. Die von Heiner Geißler angestrebte Befriedung des Konflikts wäre zumindest bedroht - auch wenn der Moderator auf die Volksabstimmung verweist. Der Schauspieler Walter Sittler, einer der Wortführer der Demonstrationen gegen S21, warnte vor kurzem im Interview mit sueddeutsche.de bereits vor heftigen Protesten.

Die Gegner sprechen mittlerweile von mehreren Stresstests. Warum?

Weil das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 der Bahn nicht traut, haben die Gegner einen eigenen Stresstest durchgeführt. Und dabei auch Kriterien berücksichtigt, die im ursprünglichen Plan für S21 nicht enthalten sind, von Heiner Geißler aber als Vorschläge angemahnt wurden. Das Ergebnis ihres Stresstests: Der Tiefbahnhof fällt durch, während der bestehende Kopfbahnhof mit Bravour besteht.

Der Wert solcher Gutachten ist allerdings umstritten. In der Schlichtung hatten sich beide Seiten dafür ausgesprochen, die renommierte Firma SMA mit dem Stresstest zu beauftragen. Der Vorschlag kam dem Vernehmen nach von Boris Palmer, also von der Gegnerseite.

Mittlerweile sagt Palmer, die SMA dürfe nicht als "Oberrichter" fungieren und das letzte Wort haben. Die Bahn hält dagegen: Technik-Vorstand Volker Kefer sagte, die Erstellung weiterer Gutachten neben dem offiziellen SMA-Stresstest seien "nicht zielführend". Befürworter und Gegner hätten schließlich die Übereinkunft erzielt, "dass das, was die SMA gemacht hat, auch zählt".

Kampf mit juristischen Mitteln

Kann S21 noch vor Gericht gestoppt werden?

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hat beim baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof in Mannheim den vorläufigen Stopp der Bauarbeiten beantragt. Er ist davon überzeugt, dass ein neuer Planfeststellungsbeschluss nötig ist, weil die Bahn beim Eisenbahn-Bundesamt größere Grundwasserentnahmen für den Tiefbahnhof beantragt hat. Das von den Grünen geführte Landesumweltministerium sieht das genauso. Die Bahn hält einen weniger zeitaufwändigen Änderungsantrag für ausreichend.

Der Berliner Konzern prüft seinerseits rechtliche Schritte gegen die Landesregierung, weil er bezweifelt, dass die grün-rote Koalition ihrer vertraglichen Projektförderungspflicht nachkommt. Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) stehe laut Vertrag in der Pflicht, alles dafür zu tun, dass Stuttgart 21 gebaut werde, sagte ein Bahn-Sprecher. Hermann, ein erklärter Gegner von S21, hatte Ende Juni gesagt, er müsse schauen, ob "dieses Projekt finanziell noch durchfinanziert ist".

Was ist mit der Volksabstimmung?

Die grün-rote Landesregierung ist gespalten, was Stuttgart 21 angeht. Die SPD ist mehrheitlich dafür, die Grünen sind dagegen. Deshalb haben sich die Koalitionspartner auf einen Kompromiss geeinigt: Das Volk soll Ende Herbst über das Bahnhofsprojekt entscheiden.

Die Hürden für ein Referendum sind in Baden-Württemberg jedoch außerordentlich hoch. Für einen erfolgreichen Volksentscheid müssen 33 Prozent der Wahlberechtigten zustimmen. Das ist eines der höchsten Quoren in Deutschland. Diese Hürde sollte auf 20 Prozent gesenkt werden. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hatte die Landesregierung vorgelegt. Auch die oppositionelle FDP war dafür.

Die CDU, deren Stimmen für eine Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit nötig sind, hat das Gesetz jedoch abgelehnt. Die Verfassung dürfe nicht zum Spielball politischer Interessen werden, hieß es aus der Unionsfraktion. "Wir verschließen uns einer Verfassungsänderung aus tagesaktuellem Grund", sagte CDU-Fraktionschef Peter Hauk am Mittwoch im Stuttgarter Landtag.

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