Migranten aus Nordafrika:Visa - die Freiheit auf dem Papier

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25.000 Menschen sind seit Februar aus Tunesien nach Italien geflohen. Berlusconis Regierung hat damit begonnen, Tausenden Kurzzeit-Visa zur Weiterreise auszustellen. Wie dramatisch ist die Situation in Italien? Wozu berechtigen die Visa? Und welche Rechte haben die Flüchtlinge?

Kathrin Haimerl

Tausende tunesische Migranten sorgen für Streit zwischen Paris und Rom: Italien hat am Wochenende damit begonnen, den Wirtschaftsflüchtlingen Kurzzeit-Visa auszustellen, mit denen sich die Flüchtlinge im Schengen-Raum drei Monate lang frei bewegen könnten.

Theoretisch zumindest. Denn Paris reagierte prompt - und ließ Züge von der italienischen Grenzstadt Ventimiglia nach Nizza einfach streichen.

Wer sind diese Migranten? Wer darf in der EU Asyl beantragen? Und: Verpflichtet das italienische Visum die anderen Schengen-Staaten dazu, die Flüchtlinge aufzunehmen? Die wichtigsten Fragen im Überblick.

Seit Februar sind nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats in Italien etwa 25.000 Menschen aus Tunesien angekommen. Zum Großteil handelt es sich dabei um arbeitssuchende tunesische Einwanderer, die seit der Revolution im Januar vor Armut und Arbeitslosigkeit aus ihrer Heimat geflohen sind.

Auf Anfrage von sueddeutsche.de erklärte ein UNHCR-Sprecher, dass jedoch etwa 4000 davon die Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten und damit als schutzbedürftig gelten. Dabei handelt es sich um Flüchtlinge aus Libyen, die übrigen stammen aus Eritrea, Somalia oder dem Sudan. Erst am Dienstag ist auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ein Flüchtlingsboot aus Libyen mit 760 Menschen angekommen.

Nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten waren im Februar binnen 24 Stunden 5000 Flüchtlinge auf Lampedusa gestrandet. Italiens Innenminister Roberto Maroni sprach von einem "biblischen Exodus". Inzwischen ist die Zahl auf 25.000 gestiegen.

Experten aber halten die Rhetorik Maronis für völlig übertrieben: Diese Zahl bewege sich in einer Größenordnung, mit der das Land aufgrund seiner Wirtschaftskraft alleine zurechtkommen müsste. Zum Vergleich: In Tunesien beläuft sich die Zahl der Flüchtlinge aus Libyen und anderen afrikanischen Staaten derzeit nach Angaben von Amnesty International auf 435.000.

Wolfgang Grenz, stellvertretender Generalsekretär von Amnesty International Deutschland, vermutet, dass Berlusconi die Migranten benutzt, um politischen Druck auf Brüssel auszuüben und zugleich von innenpolitischen Themen abzulenken. Wiederholt hatte die italienische Regierung in den vergangenen Tagen erklärt, dass sie sich von Brüssel im Stich gelassen fühlte.

Die italienischen Behörden haben am Wochenende damit begonnen, den ersten tunesischen Migranten vorläufige Aufenthaltsgenehmigungen auszustellen, die ihnen die Weiterreise zum Beispiel nach Frankreich ermöglicht. Mindestens 20 Migranten passierten am Samstag im italienischen Ventimiglia die Grenze zu Frankreich.

Die französische Regierung ließ daraufhin am Sonntag die Bahnverbindung zwischen Ventimiglia und Nizza stundenlang sperren. Inzwischen fahren die Züge dort wieder.

Paris kündigte außerdem an, nur diejenigen Migranten aufnehmen zu wollen, die über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügten. Diese müssten unter anderem nachweisen, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können. 31 Euro pro Tag und Person seien dafür notwendig, wer keine Bleibe hat, muss sogar 62 Euro pro Tag und Person nachweisen.

Die Kurzzeit-Visa basieren nach Angaben des Bundesinnenministeriums auf einer Ausnahmeregelung, die die Rückführungsrichtlinie der EU vorsieht.

Demnach kann ein Staat illegalen Einwanderern eine nationale Aufenthaltsberechtigung unter anderem "aus humanitären Gründen" erteilen, heißt es in Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie 2008/115 EG. Dieses Visum erstreckt sich über insgesamt sechs Monate. Bis zu drei Monate darf sich der Halter eines solchen nationalen Visums im Schengen-Raum frei bewegen.

Ja. Allerdings ist diese Sonderregelung an strikte Voraussetzungen im Schengener Durchführungsübereinkommen gebunden: Unter anderem muss der betroffene Migrant ein gültiges Passdokument vorweisen können. Zudem muss er über ausreichende Mittel verfügen, um seinen Lebensunterhalt für die Dauer des Aufenthalts bestreiten zu können. Frankreich ist somit berechtigt, Migranten, die diese Kriterien nicht erfüllen, abzulehnen.

Ganz so einfach ist das nicht. Denn mit dem Schengen-Abkommen fielen Europas Grenzkontrollen. Eine Wiedereinführung unterliegt im Schengener Grenzkodex strengen Regeln. Es müsste eine schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit vorliegen.

Im Gegensatz zum bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU), der eine verstärkte Kontrolle im Rahmen der Schleierfahndung ankündigte, gibt man sich im Bundesinnenministerium betont zurückhaltend: "Wir beobachten das aufmerksam und werden uns lageangepasst verhalten", sagt ein Sprecher auf Anfrage von sueddeutsche.de. Bislang ist den deutschen Behörden kein einziger Migrant mit einem italienischen Sondervisum bekannt.

In ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik unterscheidet die EU zwischen schutzbedürftigen Asylbewerbern, die aufgrund politischer oder sonstiger Verfolgung ihr Heimatland verlassen haben, und Wirtschaftsflüchtlingen. Die tunesischen Migranten geben selbst an, dass sie vor der Armut und Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat geflohen seien, sagt Asylexperte Wolfgang Grenz zu sueddeutsche.de.

Unter anderem die aussichtslose wirtschaftliche Lage hatte in Tunesien die Massenproteste gegen das Regime von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali befeuert. Seit der Revolution Ende 2010 und Anfang 2011 stockt zudem eine der wichtigsten Branchen des Landes: der Tourismus. Die wirtschaftliche Situation hat sich damit noch verschärft. Allerdings sieht das Asylrecht keinen Schutz für Wirtschaftsflüchtlinge vor.

Die Dublin-II-Verordnung beinhaltet die umstrittene Drittstaatenregelung. Demnach ist es einem EU-Mitgliedsstaat erlaubt, Asylbewerber bereits an der Grenze abzuweisen, wenn diese aus einem sicheren Drittstaat kommen. Ein Flüchtling, der von Italien nach Deutschland kommt, kann sich nicht mehr auf das Asylrecht nach Art. 16 a Absatz 1 Grundgesetz berufen. Stattdessen ist Italien für das Asylverfahren zuständig.

Derzeit berät der Europarat eine Reform von Dublin II, um die Flüchtlinge nach einem bestimmten Schlüssel auf die EU-Mitgliedsstaaten aufzuteilen. Deutsche Unionspolitiker hatten sich in den vergangenen Tagen mehrfach gegen eine solche Reform ausgesprochen und vor einer Verzehnfachung der Flüchtlingszahlen gewarnt.

Das UNHCR, Amnesty International und Pro Asyl sind sich einig: Für derartige Befürchtungen gibt es keinen Anlass. Der Anteil der Asylbewerber aus Afrika in Europa sei verhältmäßig gering und seit Jahren gleichbleibend, teilt das UNHCR mit. Auch in jüngster Zeit habe man keinen nennenswerten Anstieg verzeichnet.

Es gibt "kein Menschenrecht auf Zuwanderung", sagt Asylexperte Grenz. Doch die Menschenrechte gelten auch für illegale Einwanderer. Dazu zählen das Recht auf Leben, Würde, körperliche Unversehrtheit. Beispielsweise sei das jeweilige Land verpflichtet, den Migranten eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, sagt Grenz. Allerdings sei es vom Völkerrecht gedeckt, wenn das Land entscheide, die Migranten in ihre Heimat abzuschieben.

Tunesien hat sich Anfang April im Rahmen eines Sonderabkommens mit Italien bereiterklärt, die Migranten wieder zurückzunehmen. Italiens Premier Berlusconi war, nachdem erneut mehrere Tunesier in Lampedusa angekommen waren, nach Tunis gereist, um sich mit der dortigen Übergangsregierung zu treffen.

Das Abkommen betrifft die bilaterale Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und soll vor allen Dingen die Rückführung der illegalen Einwanderer vereinfachen. Zudem sieht es eine Verstärkung der Kontrolle in tunesischen Häfen zur Unterbindung der illegalen Migration vor. Nachdem Italien vergangene Woche mit den ersten Rückführungen begonnen hatte, kam es auf der Mittelmeerinsel Lampedusa zu einem Aufstand der Bootsflüchtlinge.

Mehrere setzten aus Protest gegen die drohende Abschiebung einen Teil des Aufnahmelagers in Brand. Ein Großteil der verbliebenen Flüchtlinge auf Lampedusa wurde daraufhin von der kleinen Felseninsel nach Sizilien und auf das italienische Festland verlegt. Auf massive Kritik von Menschenrechtlern stößt derweil insbesondere die Politik, Bootsflüchtlinge schon auf hoher See abzufangen und zurückzuschicken. "Das ist aus unserer Sicht menschenrechtswidrig", erklärt Grenz. Denn unter den Bootsflüchtlingen könnten sich Menschen befinden, für die die Genfer Flüchtlingskonvention gilt. Diese müssten also Zugang zu einem fairen Asylverfahren bekommen. Das UNHCR schätzt, dass sich in den Auffanglagern an den libyschen Grenzen zu Ägypten und Tunesien noch Zehntausende solcher Flüchtlinge aufhalten.

© sueddeutsche.de/AFP/dpa/dapd/hai - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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