Süddeutsche Zeitung

Stuttgart 21: Eskalation der Gewalt:Pfefferspray gegen Demonstranten

Der Konflikt um den Bahnhofs-Neubau Stuttgart 21 eskaliert: Die Polizei setzt im Schlossgarten Wasserwerfer und Pfefferspray gegen Demonstranten ein. Hunderte werden verletzt, darunter auch Kinder. Die Aktivisten wollen Bäume retten, die dem Bauprojekt weichen sollen. Jetzt beschäftigt die Gewalt auch den Bundestag.

In der Idylle des Schlossgartens eskaliert der Streit um Stuttgart 21: Tausende sind dem Ruf der Gegner gefolgt und protestieren gegen das Milliarden-Bahnprojekt Stuttgart 21. Bei einer Schülerdemonstration am Nachmittag kommt es zur Eskalation und zu Gewalt gegen Demonstranten. Die Zusammenstöße beschäftigen nun auch den Bundestag.

Mit einem Großaufgebot hat die Polizei zuvor begonnen, einen Teil des Schlossgartens abzusperren. Dort sollen die ersten von insgesamt 300 teilweise uralten Bäumen für den Umbau des Hauptbahnhofes gefällt werden. Die Gegner des Neubaus rufen über das Internet dazu auf, zum Schlossgarten zu kommen. Laut den Aktivisten versammeln sich mindestens 3000 bis 4000 Menschen zum Protest, die Polizei spricht von 1000 bis 2000. Auch in der Nacht blieben Tausende Menschen im Schlossgarten.

Die Polizei setzt Wasserwerfer, Schlagstöcke und Pfefferspray ein, die Lage gerät immer weiter außer Kontrolle: Ein Sprecher der Parkschützer sagte zum harten Durchgreifen: "Es wurde kein Unterschied zwischen Jugendlichen und Erwachsenen gemacht. Das sind wirklich bürgerkriegsähnliche Zustände." Mindestens sechs Minderjährige sind unter den Verletzten.

Mehr als hundert Menschen hätten Augenreizungen oder -verletzungen erlitten, sagen die Sprecher der Demonstranten. Hinzu kämen etliche Prellungen, Platzwunden, Verletzungen an Bändern und andere Verletzungen. Die Polizei spricht von 116 Verletzten.

Ab Mitternacht darf gefällt werden

Wer trägt die Verantwortung, dass der Streit um ein paar Bäume, die einem neuen Bahnhof weichen sollen, derart aus dem Ruder läuft? Das baden-württembergische Innenministerium musste inzwischen kleinlaut einräumen, dass nicht - wie zunächst behauptet - aus einer Schülerdemonstration heraus Pflastersteine auf Polizisten geworfen wurden. "Da waren wir falsch informiert", sagte eine Sprecherin von Innenminister Heribert Rech (CDU). Dennoch sei die Aggression von der Gruppe ausgegangen.

Nach der Räumung eines besetzten Polizei-Lkw seien Plastikflaschen und kleine Steine geflogen. Ein Polizeisprecher sagte aber, dabei seien keine Beamten verletzt worden.

Rech verteidigt den massiven Einsatz im heute journal im ZDF: Es sei bedauerlich, dass es zum Einsatz von Wasserwerfern gekommen sei, aber: "Im äußersten Notfall sind auch Wasserwerfer erforderlich."

Die Demonstranten seien friedlich geblieben, behaupten die Stuttgart-21-Gegner. Sie werfen den Einsatzkräften vor allem Gewalt gegen Kinder und Jugendliche vor.

Dass Kinder verletzt wurden, räumt auch der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) indirekt ein. "Es war ein trauriger Tag für Stuttgart. Ich bedauere sehr, dass Menschen verletzt wurden und vor allem, dass Kinder und Jugendliche zu Schaden gekommen sind", erklärt er am Abend. Es werde geprüft, wie es dazu kommen konnte.

Baden-Württembergs CDU-Fraktionschef Peter Hauk hat eine Erklärung dafür - er sieht die Schuld bei den Demonstranten. Sein Vorwurf: Die Aktivisten instrumentalisieren ihre Kinder. "Ich finde es unverantwortlich von Müttern und Vätern, dass sie ihre Kinder nicht nur mitnehmen, sondern auch in die erste Reihe stellen", sagt Hauk. Auch Innenminister Rech äußert sich im heute journal ähnlich: "Wenn sich Mütter mit den Kindern der Polizei in den Weg stellen, dann müssen sie eben auch mit einfacher körperlicher Gewalt weggebracht werden."

Özdemir: "Brutale Bulldozer-Politik"

Laut den Aktivisten haben die Baumfällarbeiten bereits begonnen, Polizeipräsident Siegfried Stumpf sagt aber, die Fällarbeiten würden erst in der Nacht zum Freitag beginnen und sollen bis Samstag dauern. Ab Mitternacht darf offiziell gefällt werden. Bis dahin sollen laut den Organisatoren der Proteste noch viel mehr Demonstranten in den Schlossgarten strömen.

Die Erschütterungen der Zusammenstöße sind auch in Berlin zu spüren: Der Innenausschuss des Bundestages will sich an diesem Freitag auf einer Sondersitzung mit den Ereignissen beschäftigen. Den Antrag dazu hat die Linke-Fraktion gestellt. Von besonderem Interesse sei das Vorgehen der Polizei, auch der eingesetzten Bundespolizisten in Stuttgart, sagt Jan Korte, Innenexperte der Linken. Außerdem sollten die Zahl der Verletzten, die Strategie der Polizei sowie der Einsatz von Schlagstöcken, Wasserwerfern und Tränengas geprüft werden.

Auch die Kanzlerin meldet sich am späten Abend zu Wort: Angela Merkel sagte dem SWR, jeder dürfe zwar demonstrieren, es müsse aber alles vermieden werden, was zu Gewalt führen könne. ""ch wünsche mir, dass solche Demonstrationen friedlich verlaufen", sagte Merkel. "Das muss immer versucht werden, und alles muss vermieden werden, was zu Gewalt führen kann!" Merkel bekräftigte auch, dass das Bahnhofs-Projekt sinnvoll und richtig sei.

Grünen-Chef Cem Özdemir kritisiert den Polizeieinsatz scharf: Er spricht von "brutaler Bulldozer-Politik". So werde die Auseinandersetzung nur schärfer und noch schwieriger. Nötiger denn je sei jetzt ein sofortiger Baustopp.

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