Streit um EU-Spitzenkandidaten:Ein halber Schritt zu mehr Demokratie

Juncker mit Wahlkampfmanager Selmayr

Soll Jean-Claude Juncker Präsident der Europäischen Kommission werden oder nicht? Daran scheiden sich die Geister.

(Foto: Julien Warnand/dpa)

Die Idee, einen europäischen Spitzenkandidaten nach der Wahl zum Kommissionspräsidenten zu machen, soll reine Willkür sein? Politiker, die heute vor einem "gefährlichen Präzedenzfall" warnen, waren vor zehn Jahren an einer richtungsweisenden Entscheidung beteiligt.

Von Daniel Brössler, Brüssel

Das Signet war damals ein E. Wie in Euro. Als sich führende konservative Politiker aus der EU im Oktober 2002 im portugiesischen Seebad Estoril trafen, ging es um einen europäischen Aufbruch. "Eine Verfassung für ein starkes Europa", lautete das Thema, zu dem sich die Delegierten der Europäischen Volkspartei (EVP) versammelt hatten. Sieben Regierungschefs aus der EU waren anwesend, José Maria Aznar etwa aus Spanien oder Wolfgang Schüssel aus Österreich.

Auch Parteileute aus Kandidatenstaaten nahmen teil, Viktor Orbán aus Ungarn zum Beispiel. Die Öffentlichkeit hat den Kongress lange vergessen, aber offenbar können oder wollen sich auch einige der Teilnehmer sich nicht mehr erinnern. Damals nämlich, vor fast zwölf Jahren, nahm die Idee mit dem europäischen Spitzenkandidaten ihren Lauf.

"Es wäre ein Verstoß gegen mein Wahlversprechen und auch ein Bruch der Europäischen Verfassung, wenn ich nun Herrn Juncker nominieren würde, nur weil andere Parteien der EVP das so wollen", sagte Ungarns Ministerpräsident Orbán in einem Bild-Interview. Mehr noch: "Das würde am Ende die Grundlagen der Europäischen Union zerstören."

Ganz ähnlich hatte sich zuvor der britische Premierminister David Cameron geäußert. Seine Kollegen im Europäischen Rat, die am 26. und 27. Juni entscheiden müssen, ob sie Jean-Claude Juncker dem Europäischen Parlament als Kommissionspräsidenten vorschlagen, warnte er per Zeitungsartikel vor einem "gefährlichen Präzedenzfall". Einige Abgeordnete des Europaparlaments hätten sich ein "neues Verfahren ausgedacht, wonach sie den Kandidaten aussuchen wie auch wählen". Reine Willkür also.

Was da tobt, ist ein Streit über die richtige Interpretation eines Passus in Artikel 17 des Vertrags über die Europäische Union. Demnach schlägt der Rat "nach entsprechenden Konsultationen" mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten vor. "Dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament." Nach Cameron-Orbánscher Lesart hat das nichts mit Spitzenkandidaten zu tun, die sie als neue Erfindung zum Zwecke parlamentarischer Selbstermächtigung darstellen.

"Im Lichte des Ergebnisses der Europawahlen"

Dabei ist das Thema alt. Damals, im Oktober 2002 in Estoril, beschlossen die Delegierten ein Dokument, das die Positionen der Konservativen und Christdemokraten für eine europäische Verfassung absteckte. In Punkt 47 widmeten sie sich der Wahl des Kommissionspräsidenten, der mit qualifizierter Mehrheit von den Staats-und Regierungschefs vorgeschlagen und vom Parlament gewählt werden sollte. Dies, forderten sie, solle "im Lichte des Ergebnisses der Europawahlen" geschehen. Und warum? "Das würde den europäischen politischen Parteien die Gelegenheit geben, im Rahmen der Wahlkampagnen für die Europawahl ihre eigenen Kandidaten zu präsentieren." Ziel sei eine "personalisiertere Wahlkampagne und eine stärkere demokratische Kontrolle und Unterstützung der Europäischen Kommission". Dem Teilnehmer Orbán sollte die Idee mit den Spitzenkandidaten also nicht ganz neu sein.

Der Brite Cameron kann sich zwar auf den Standpunkt stellen, mit alledem nichts zu tun zu haben, aber zumindest seine Tories waren 2002 noch Teil der EVP gewesen. Sie hatten sich erst 2009 von den Christdemokraten abgewandt und eine eigene Fraktion im Europaparlament gebildet. Es sei nicht darum gegangen, ein Machtungleichgewicht zwischen den Regierungschefs und dem Parlament herbeizuführen, hält der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok, im 2002 bis 2003 tagenden Verfassungskonvent maßgeblich an den Formulierungen beteiligt, Cameron entgegen. "Es war immer das Ziel, die Bürger stärker zu beteiligen", sagt er.

Den Spitzenkandidaten? Den kennt doch keiner

Brok argumentiert, dass in der Entstehungsgeschichte der geltenden Bestimmung im Lissabon-Vertrag die Idee mit den Spitzenkandidaten bereits angelegt war. Dafür spricht, dass sich in den Formulierungen ein roter Faden zieht von der im Verfassungskonvent beschlossen Fassung bis zum Lissabon-Vertrag. Zutreffend ist, dass das Projekt von Europaabgeordneten wie Brok vorangetrieben worden ist.

Unterstützt wurden sie aber stets auch von außerhalb des Europäischen Parlaments. Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble gehörte etwa zu denen, die sich früh für eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europaparlament stark gemacht hatten. Im Oktober 2012 beschloss die EVP auf ihrem Kongress die Nominierung eines Spitzenkandidaten. Mit dabei: mehrere Regierungschefs, auch Angela Merkel.

Britischerseits wird darauf verwiesen, dass die Öffentlichkeit von den Spitzenkandidaten gar nichts mitbekommen habe. Selbst in Deutschland hätten nur 15 Prozent der Bürger gewusst, dass Juncker einer sei, schrieb Cameron. Die britische Denkfabrik Open Europe machte eine Rechnung auf, wonach weniger als zehn Prozent der europäischen Wahlbürger für Parteien gestimmt hätten, die Juncker unterstützt haben - und nicht einmal die hätten alle gewusst, dass sie Juncker wählen.

Wer sich ein bisschen europapolitisch interessiere, habe sehr wohl wissen können, worum es bei der Wahl gegangen sei, sagt Hannes Swoboda, scheidender Chef der Sozialdemokraten im Europaparlament, nämlich um einen "halben Schritt" zu mehr Demokratie in Europa. Und der CDU-Mann Brok prophezeit: "Das ist jetzt der erste Probelauf gewesen." Wenn der siegreiche Spitzenkandidat diesmal tatsächlich Kommissionspräsident werde, "werden wir in fünf Jahren eine ganz andere Europawahl haben".

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