Süddeutsche Zeitung

Streit um das Verfassungsgericht:Schwere Staatskrise in Polen

Lesezeit: 2 min

Von Florian Hassel, Warschau

Polen steckt auch nach einem Urteil des Verfassungsgerichts weiter in einer schweren Staatskrise. Das Gericht erklärte am Mittwoch Gesetzesänderungen der Regierung für verfassungswidrig, mit dem die Nationalkonservativen die Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit des Gerichts einschränken wollten.

Die Änderungen sahen unter anderem vor, dass das 15 Richter umfassende Gericht für ein gültiges Urteil mindestens 13 Richter versammeln müsse. Statt mit einfacher Mehrheit sollten die Richter künftig nur noch mit Zweidrittelmehrheit urteilen dürfen.

Mit dem Gesetz wollte die Regierung außerdem erreichen, dass über Klagen nur noch in der Reihenfolge ihres Eingangs bei Gericht entschieden wird. Auch sollten Justizminister und Präsident Disziplinarverfahren gegen Verfassungsrichter eröffnen und das Parlament Richter absetzen dürfen.

Der Vorsitzende des Verfassungsgerichts und sein Stellvertreter sollten ausscheiden, künftige Chefrichter nur noch drei Jahre amtieren. Das Verfassungsgericht begründete seine Ablehnung damit, dass die Änderungen "eine zuverlässige und reibungslose Arbeit des Gerichts verhinderten".

Die von der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Pis) geführte Regierung boykottierte das Verfahren: Im Gericht erschienen weder Vertreter der Regierung oder des Parlaments noch der Generalstaatsanwalt. Justizminister Zbigniew Ziobro und Ministerpräsidentin Beata Szydło sprachen der Verhandlung des höchsten Gerichts die Rechtskraft ab. Szydło will das Urteil auch nicht im amtlichen Gesetzblatt veröffentlichen.

Kommission des Europarats sieht Demokratie in Polen in Gefahr

Polens Regierung dürfte auch eine für Freitag geplante Empfehlung der Venedig-Kommission des Europarats ignorieren; diese ist für Verfassungsfragen zuständig. Schon Ende Februar hatten die sechs Verfassungsexperten erklärt, dass die geplanten Gesetzesänderungen europäischen und internationalen Rechtsmaßstäben widersprächen. In Polen seien "die Herrschaft des Gesetzes und ebenfalls Demokratie und Menschenrechte in Gefahr".

Pis-Parteichef Jarosław Kaczyński, Polens eigentlicher Herrscher, nannte diese Expertise "juristisch absurd" und die Venedig-Kommission angeblich "diskreditiert".

Weil Polens ebenfalls von der Pis gestellter Präsident sich trotz eines Urteils des Verfassungsgerichts weigert, drei noch unter der Vorgängerregierung gewählte Verfassungsrichter zu vereidigen, dürfen derzeit nur 12 der 15 Verfassungsrichter rechtskräftig urteilen. Die Pis-Regierung nutzt dies nun als Vorwand für ihren Boykott des Verfassungsgerichts. Denn für rechtskräftige Urteile müssten der im Dezember verabschiedeten Gesetzesänderung zufolge mindestens 13 Richter entscheiden.

Die Experten der Venedig-Kommission stellten jedoch fest, das Gesetz habe vor der nun erfolgten Prüfung durch das Verfassungsgericht nach internationalen Rechtsmaßstäben keine Gültigkeit. "Andernfalls könnte ein normales Gesetz, das feststellt 'Hiermit ist die Kontrolle der Verfassungsgemäßheit abgeschafft - dieses Gesetz tritt sofort in Kraft' das traurige Ende von Rechtsprechung zu Verfassungsfragen bedeuten."

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SZ vom 10.03.2016
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