Bis kurz vor Schluss sieht es so aus, als müssten sie Gefangene bleiben, diese eigensinnigen Herren, die sich nicht benutzen lassen wollen.
"Die Legenden müssen ein Ende nehmen", sagt der Gedenkstättenleiter.
"Ich bin keine Legende!", sagt der ehemalige Häftling.
"Mir fehlt es da langsam völlig an Verständnis", sagt der Richter, bevor er im Saal 147 ein kleines diplomatisches Wunder vollbringt.
Kammergericht Berlin, ein Gebäude wie ein Geschichtsbuch, mit herrschaftlichen Treppen und barockem Gezier, in dem 1944 Volksgerichtspräsident Roland Freisler die Verschwörer des 20. Juli niedergebrüllt hat. Nach dem Krieg tagte hier der Alliierte Kontrollrat, und Geschichte ist hier auch am Donnerstag präsent. Es ist eine schwierige Geschichte.
In Saal 147 sitzt Stefan Jerzy Zweig, das heißt: Er versucht zu sitzen, aber es gelingt nicht recht. Zweig ist 71 Jahre alt, spricht Deutsch mit polnischem Akzent, und wer nicht weiß, was er hinter sich hat, könnte ihn für einen etwas wunderlichen alten Herrn halten. Im Gericht schimpft er mal - und mal springt er auf, erzählt vom Vater und den Kommunisten, die ihn gerettet haben.
Stefan Jerzy Zweig ist nicht verrückt, sondern schwer verwundet, er hat das Konzentrationslager Buchenwald überlebt, jetzt klagt er vor der Kammergericht gegen den Leiter der Gedenkstätte Buchenwald. Volkhard Knigge soll aufhören, von "Opfertausch" zu reden, wenn er von Zweig spricht. Der Gedenkstättenleiter lehnt das ab, er hält das Wort für unverzichtbar.
"Nr. 200" auf der Todesliste
Um zu verstehen, worum es geht bei diesem heillosen Streit, sollte wissen, dass Stefan Jerzy Zweig nicht irgendein Häftling in Buchenwald war, sondern das "Kind von Buchenwald". Er kam als dreijähriger Junge mit seinem Vater, einem Krakauer Anwalt, ins KZ. Mutter und Schwester wurden in Auschwitz ermordet, und auch er, der Jüngste in Buchenwald, sollte ihnen in den Tod folgen.
Am 25. September 1944 setzte die SS Zweig als "Nr. 200" auf die Transportliste nach Auschwitz. Was dann kam, hat Wunden geschlagen, die nie verheilt sind. Es waren kommunistische Häftlinge und sein Vater, die dem jüdischen Jungen im Lager halfen. 1958 machte der DDR-Autor Bruno Apitz aus seiner Rettung das Buch "Nackt unter Wölfen", es wurde ein Welterfolg und verfilmt, als antifaschistische Heldengeschichte - und unter Weglassung einiger Details.
Stefan Jerzy Zweig erfuhr erst später, dass man ihn zum Objekt der DDR-Propaganda gemacht hatte und er sein Leben auch einer grausamen Entscheidung verdankte. Häftlinge in der Schreibstube der SS strichen ihn 1944 von der Transportliste nach Auschwitz, mit elf weiteren Häftlingen, und schickten stattdessen Willy Blum in den Tod, 16 Jahre alt und als "Zigeuner" registriert.
Volkhard Knigge ist Geschichtsprofessor, er leitet die Gedenkstätte Buchenwald, ist ein Mann mit kühlem Blick und dünner Stimme, die sich fast verliert im Saal 147 des Kammergerichts. Aber daran liegt es nicht, dass der Vorsitzende Richter ihn nicht versteht. Knigge sei doch kein Dummer, sagt der Richter irgendwann, "Sie sind ein Intellektueller."
Volkhard Knigge leitet seit 1994 die Gedenkstätte im ehemaligen KZ Buchenwald, und hat die Erinnerungskultur der DDR durch eine zeitgemäße Ausstellung ersetzt. Neben NS-Verfolgten werden nun Menschen gezeigt, die nach 1945 in Buchenwald in ein stalinistisches Speziallager gesperrt wurden. Eine Gratwanderung war das, die Knigge auch Ärger bescherte. Er wollte sich da von niemandem instrumentalisieren lassen.
Aber auch Stefan Jerzy Zweig, der ehemalige Häftling, will nicht schon wieder in anderer Leute Weltbild gepresst werden. Als Knigge bei der Entrümpelung der Gedenkstätte ein Schild abhängte, das an das "Kind von Buchenwald" erinnerte, war Zweig gekränkt. Der Mythos müsse entzaubert werden, argumentierte der Stiftungsleiter, nicht Heldentum, sondern ein "Opfertausch" habe 1944 Zweig das Leben gerettet. Knigge erklärte das unerbittlich immer wieder, und er wollte es auch nicht unterlassen, als Zweig ihn verklagte.
In erster Instanz bekam Knigge recht, einem Forscher könne der Begriff "Opfertausch" nicht verboten werden, entschied ein Gericht. Auch in zweiter Instanz könnte Meinungsfreiheit über Persönlichkeitsrechte siegen, deutet der Vorsitzende Richter Stefan Neuhaus im Kammergericht an - bevor er dem Stiftungsleiter auf den Pelz rückt.
Warum, fragt der Richter, besteht ein kluger Kopf wie Knigge auf einem Begriff wie "Opfertausch", wenn er einen Mann mit einem Schicksal wie dem von Zweig verletzt und "aus der Bahn geworfen" hat? Zur Führung einer Gedenkstätte gehöre neben wissenschaftlicher Akribie doch auch "Empathie". Knigge soll einem Vergleich zustimmen, der aber lehnt ab. "Ich weiß, wie man mit Überlebenden umgeht", sagt der Gedenkstättenleiter, aber er müsse nun mal dafür sorgen, dass die Legenden ein Ende nehmen. "Ich bin keine Legende!", ruft Stefan Jerzy Zweig dazwischen.
Der Richter lässt nicht nach, "Opfertausch", das suggeriere doch, dass die Opfer es waren, die tauschten, dabei traf sie keinerlei Schuld. Das Wort sei auch kein Standardbegriff der Forschung, "deshalb verstehe ich nicht, warum man darauf nicht verzichten kann". Dreimal verlassen die Parteien den Saal, kehren zurück, schütteln Köpfe. Stunden später schließen sie einem Vergleich. Volkhard Knigge wird das Wort "Opfertausch" nicht mehr verwenden, in Interviews. Stefan Jerzy lacht, als er den Saal verlässt. Es ist nicht das Lachen eines Siegers.