Streit über den Atomausstieg:Das Trauma der Grünen

Siegen sich die Grünen zu Tode? Der wohl endgültige Atomausstieg könnte ohne den größten Kernkraftgegner stattfinden. Die Merkel'sche Energiewende spaltet die Grünen - und nimmt ihnen das einzige Thema, das alle Gräben in der Partei überwinden konnte.

Michael Bauchmüller

Wie sehr sich eine Partei verbiegen muss, um aus der Atomenergie auszusteigen, weiß keiner so gut wie die Grünen. 1998 zogen sie mit einem klaren Ziel in den Wahlkampf: "Bündnis 90/Die Grünen wollen den sofortigen Ausstieg", so stand es im Programm. Keine zwei Jahre später heckten sie zusammen mit der SPD einen Konsens aus, der das Ende der Atomkraft auf 2021 hinausschob.

Fraktionssitzung der Gruenen auf dem Deich vor  dem AKW Brokdorf

Eine Parteifahne der Gruenen und Fahnen mit der Aufschrift 'Atomkraft? Nein Danke' wehen auf dem Elbdeich vor dem Atomkraftwerk Brokdorf während einer auf dem Deich abgehaltenen Open-Air-Fraktionssitzung der Gruenen im schleswig-holsteinischen Landtag. 

(Foto: dapd)

Als Regierungspartei waren sie flexibel, der Preis dafür war ein grünes Trauma. Umweltverbände wandten sich ab, Mitglieder traten aus. Innerhalb der Partei entstand eine Opposition, und auf einem Parteitag fand sich nur mit Mühe eine Mehrheit für den Kompromiss. Wer wissen will, wie schlecht die Grünen jetzt dran sind, muss diese Geschichte kennen. Das Trauma könnte sich wiederholen.

Wieder muss sich die Partei fragen, wie sehr sie sich verbiegen kann. Reicht sie die Hand zum großen "Gemeinschaftswerk" Energiewende, wie das die Ethik-Kommission nennt; also zur Vollendung des eigenen Umbauplans von einst? Oder lehnt sie das ab - schließlich wollen die Grünen seit Fukushima schon 2017 raus aus der Kernkraft; und schließlich findet sich auch im schwarz-gelben Ausstiegsplan noch der eine oder andere Haken.

Für beide Positionen finden sich gute Argumente. Konsequent wäre die Verweigerung, verantwortungsvoll wäre der Konsens: Nie war die Gelegenheit zu einem gesellschaftlichen, alle Lager überbrückenden Konsens über die Zukunft der Atomkraft besser. Selten war das Dilemma der Grünen größer.

Konsequenz und Verantwortung, Prinzipientreue und Pragmatismus - es ist jene Amplitude, in der die Oppositionspolitik der Grünen seit Jahren schwingt. Sie erheben Forderungen nach einem radikalen Umbau der Wirtschaft, hängen darüber aber das Mäntelchen eines Green New Deal, der Gewinne für alle verspricht. Sie prangern die schlechte Arbeit der Regierung an und sind doch im Zweifel bereit, staatstragend mit ihr zu stimmen, wie bei der Rettung des Euro.

Diese Melange aus Prinzipienfestigkeit im Großen und pragmatischer Politik im Detail ist Kern des grünen Erfolgs. Es machte die Partei wählbar für weite Teile des bürgerlichen Milieus, während Stammwähler nach wie vor die guten alten Grünen erkennen konnten.

Keine echte Führung

Die schwarz-gelbe Atompolitik des vergangenen Herbstes und die Reaktorkatastrophe in Fukushima taten das ihre dazu. Belohnt wurde die Standhaftigkeit der Grünen in ihrer Kernfrage; unter anderem mit einem Ministerpräsidentenposten in Baden-Württemberg, mit sensationellen Umfrage-Ergebnissen, aber auch mit Mitgliederzahlen, die den Schwund nach dem rot-grünen Atomkonsens längst vergessen machen. Die klare Position in der Atomkraft unterschied sich wohltuend vom Sowohl-als-auch sonstiger grüner Politik. Genau deshalb könnten die Grünen die Verlierer der Merkel'schen Energiewende werden. Sie könnten sich zu Tode siegen.

Ob es so kommt, hängt von der Kraft des Arguments ab. Lehnen die Grünen den breiten Konsens ab, brauchen sie gute Gründe, um nicht abermals als "Dagegen-Partei" dazustehen. Sie müssen darlegen, warum selbst dieser Ausstieg immer noch zu spät kommt und diese Wende immer noch zu zaghaft ist.

Stimmen sie aber zu, müssen sie das den eigenen Leuten gut erklären, auch jenen also, die seinerzeit schon den rot-grünen Konsens zu schlucken hatten. Gelingt das nicht, dürfte der Umgang mit der Atomkraft Flügelkämpfe provozieren, wie sie die Partei lange nicht mehr erlebt hat. Sie könnten einen ganzen Parteitag beschäftigen, der womöglich Ende Juni die Haltung klären soll. Bisher war das Atomthema Kitt für die Partei. Jetzt spaltet es.

Denn zuverlässig wie keine andere Frage überbrückte das Nein zur Atomkraft alle Gräben innerhalb der Partei. Linke und Realos mochten über Beitragsbemessungsgrenzen und Auslandseinsätze der Bundeswehr streiten, in dieser Frage waren sie stets geeint. Es ging eben ums Prinzip.

Im Detail aber wird es schwierig, auch weil sich die Partei so schnell wandelt. Viele neue Mitglieder, viele potentielle Wähler haben die Partei als Hort der Vernunft schätzen gelernt. Sie haben den Realo-Flügel implizit gestärkt. Gerade aber bei der Linken ist die Atomkraft kein Thema für Kompromisse; es übt obendrein die Umweltbewegung Druck aus, die klare Kante sehen will. Das Trauma von Rot-Grün wirkt nach.

In dieser Situation rächt sich, dass die Grünen zwar gute Führungspersönlichkeiten haben, aber keine echte Führung. Stattdessen haben sich zwei Doppelspitzen im Proporz eingerichtet, sie tarieren Flügel und Geschlechter fein aus und sammeln so Zuspruch in einer breiten Klientel. So ist grüne Politik stets auch die Suche nach einem Ausgleich der Flügel-Interessen; das erklärt die oft so dehnbaren grünen Positionen. Ein Kurswechsel aber, und sei es die Bereitschaft zum Ausstieg 2022, ist so kaum zu bewerkstelligen. Letzteren organisieren Union und FDP nun im Zweifel mit den Sozialdemokraten. Die Grünen bleiben außen vor.

So wird der erste Atomausstieg, der tatsächlich endgültig sein könnte, ausgerechnet ohne die größten Gegner der Atomkraft stattfinden. Ob sich das jemals für die Partei auszahlen wird? Es spricht vieles dagegen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: