Süddeutsche Zeitung

Streit in der Union:Sigmar Gabriel und sein hanebüchener Vorwurf

Der SPD-Vorsitzende erklärt die Auseinandersetzungen zwischen CDU und CSU für gefährlich. Das ist eine Wahrnehmung von Politik, die Geschichte und Wesen der eigenen Partei negiert.

Kommentar von Kurt Kister

Sigmar Gabriel rangiert auf der Liste der bedeutenden SPD-Vorsitzenden irgendwo im unteren Drittel. Dort finden sich Vorgänger, die ebenfalls, wie er es jüngst ausgedrückt hat, "natürlich Kanzler werden" wollten. Die Mehrzahl hat es nicht geschafft, und von den drei SPD-Kanzlern, die es in der Bundesrepublik gab, wollten zwei nur Kanzler sein und nicht SPD-Chef.

Helmut Schmidt war es aus kühler Berechnung nie. Gerhard Schröder wollte es 1993 ausschließlich aus Karrieregründen werden, verlor aber gegen Rudolf Scharping. Als er es eigentlich nicht mehr werden wollte, musste er 1999 für ein paar Jahre den Parteivorsitz übernehmen, weil Oskar Lafontaine der SPD den Rücken kehrte.

Die SPD war stets eine diskussionsfreudige Partei. Sie war so diskussionsfreudig, dass diese Debatten auch ihre Kanzler ins Wackeln brachten. Sowohl Schmidt (Nachrüstung) als auch Schröder (Agenda 2010) regierten manchmal gegen Teile ihrer Partei. Das war oft schwierig, aber es gehört nun einmal zur Identität der SPD, dass sie Differenzen über die richtigen sozialdemokratischen Wege austrägt. Hin und wieder geschah dies in nahezu selbstzerstörerischem Ton. Und dennoch wäre die SPD ohne den innerparteilichen Streit nicht die SPD.

Gabriels Politik-Wahrnehmung negiert Geschichte und Wesen der SPD

Dass nun ausgerechnet Gabriel, der Chef dieser Partei, der Union vorwirft, ihr innerparteilicher Streit über die Flüchtlingspolitik gefährde im Prinzip den Konsens der Demokraten, ist geradezu hanebüchen. Gabriel sagt: "Je länger der Streit in der Union andauert, desto mehr Menschen werden sich von der Politik abwenden, und desto mehr werden die Rechtsradikalen an Boden gewinnen."

Das ist eine Wahrnehmung von Politik, die Geschichte und Wesen der eigenen Partei negiert. Gabriel offenbart außerdem ein fragwürdiges Verständnis von der Funktion des demokratischen Prozesses, also der Meinungsbildung in der Kontroverse.

Demokratie lebt von Kontroverse - selbst mit einem Ingolstädter Cowboy

Zwar hat Horst Seehofer in den letzten Tagen in der Manier eines Ingolstädter Cowboys ein Shoot Out mit Angela Merkel gesucht. Das ist albern und mag auch damit zu tun haben, dass sich da einer im Zenit seiner Karriere wähnt, in Wirklichkeit aber Gevatter Söder schon mit der Sense winkt.

Jenseits dieser Seehoferei aber handelt es sich bei der Kontroverse um eine immens bedeutende Streitfrage: Wie wird, wie soll Deutschland in den nächsten Wochen mit der nicht abnehmenden Flüchtlingszahl umgehen?

Optimismus ist wichtig, aber er reicht nicht aus. Die Bundesrepublik wird nicht mehr alle aufnehmen können, die kommen wollen, und darauf weist Seehofer hin, wenn auch in halbstarker Manier. (Diese Manier übrigens ist gerade Sigmar Gabriel nicht fremd.) Die Kanzlerin hat recht: Den Schalter, den man umlegen könnte, gibt es nicht. Aber auch Seehofer hat recht, der als Ministerpräsident von Bayern hautnah miterlebt, dass selbst die besten Landes- und Kommunalverwaltungen an den Grenzen des Möglichen angekommen sind.

Der Bund hat seine Pflichten zu lange vernachlässigt. Dies und vieles andere sind legitime Themen der Debatte und durchaus auch des Streits. Eine Partei muss diesen Streit ausfechten, die SPD übrigens tut das kaum.

Wer glaubt, dass die Demokratie den Streit nicht aushält, der ist mindestens kleinmütig. Ein "natürlicher" Kanzler jedenfalls ist er nicht.

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Quelle:
SZ vom 31.10.2015
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