Streiks:Erst mal abwarten

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Warum das Gesetz zur Tarifeinheit im Verhältnis von Arbeitgebern und Gewerkschaften noch nichts verändert hat.

Von Detlef Esslinger

Hat das Gesetz zur Tarifeinheit bereits die Folge, dass weniger gestreikt wird? Das war schließlich einer der wichtigsten Gründe, warum die große Koalition 2015 dieses Gesetz beschloss. Erste Antwort: Das ist möglicherweise die falsche Frage. Aus Sicht von Arbeitgebern mögen Streiks immer etwas Beklagenswertes sein. Aber aus Sicht von Gewerkschaften sind sie ein legitimes und legales Mittel der Verhandlungsführung. Das Verfassungsgericht hat daher auch die Frage zu klären, ob ein Gesetzgeber überhaupt das Ziel haben darf, Streiks zu reduzieren. Zweite Antwort: Für eine zuverlässige Bewertung, ob und wie das Gesetz wirkt, ist es noch zu früh.

Im Juli 2015 trat es in Kraft. Und auch, wenn die Streikstatistik für 2016 erst im März vorliegt, eins lässt sich schon jetzt sagen: In jenem Jahr wurde deutlich weniger gestreikt als noch 2015. Der Grund war aber nicht das neue Gesetz - sondern, dass im vergangenen Jahr weniger Tarifkonflikte anstanden als im vorvergangenen. 2015 gab es, gemessen am Arbeitsausfall, gut zwei Millionen Streiktage; 1,5 Millionen davon entfielen auf die harten Auseinandersetzungen bei den Kitas und der Post.

2015 beteiligten sich zudem viel mehr Arbeitnehmer an Streiks als noch im Jahr zuvor, nämlich mehr als eine Million. 2014 waren es nur knapp 350 000. Und welche beiden Gewerkschaften waren für die Zunahme verantwortlich? Es waren Verdi (im Fall der Kitas und der Post) sowie die IG Metall (die zu ungewöhnlich vielen Warnstreiks in der Metallindustrie aufgerufen hatte). Ohne also die Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bei der Bahn und der Vereinigung Cockpit (VC) bei der Lufthansa kleinzureden - für die These, Branchengewerkschaften wie Verdi und IG Metall seien tendenziell friedfertiger als Spartengewerkschaften wie GDL und VC, lieferte 2015 nicht den Beweis. Diese These lag indes dem Gesetz zur Tarifeinheit unausgesprochen zugrunde. Und gemessen an den meisten anderen Industrieländern wird in Deutschland sowieso weiterhin sehr wenig gestreikt.

Ein Gesetz zur Tarifeinheit könnte indes nicht nur dadurch wirken, dass es die Zahl der Streiks reduziert. Es könnte auch das Verhalten von Gewerkschaften beeinflussen, lange bevor sie in den Arbeitskampf ziehen. Die Hoffnung war, dass gerade die Spartengewerkschaften nun abgehalten werden, sich mit immer höheren Forderungen zulasten der Branchengewerkschaften zu profilieren. Derlei war aber bisher nicht zu beobachten.

Verdi will sich nicht damit begnügen, das abzunicken, was andere verhandelt haben

Der Hoffnung steht zudem eine Befürchtung gegenüber. Das Gesetz sieht vor, dass in einem Betrieb der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft den Vorrang erhält, die dort die meisten Mitglieder hat. Jede andere Gewerkschaft soll bloß noch nachzeichnen, also nachziehen dürfen. Wer aber hat jeweils die meisten Mitglieder? Das ist nicht überall eindeutig, es müsste in jedem Betrieb gezählt werden. Bisher ist noch nirgendwo gezählt worden. Und wozu dürfte eine Gewerkschaft verleitet werden, die bis zum Zähltag so viele neue Mitglieder wie möglich braucht? Hohe Forderungen dürften ihr Werbemittel sein. "Wir werden niemals auszählen lassen", sagt Verdi-Chef Frank Bsirske. In einem Betrieb läge er vielleicht vorn, in einem anderen hingegen hinten - es gehört jedoch nicht zu Bsirskes Selbstverständnis, plötzlich irgendwo die Rolle des Nachzeichners zu akzeptieren; und sei es in einem Mini-Betrieb. Bsirske ahnt, dass es so auch mal kommen könnte; er gehört zu denen, die Verfassungsbeschwerde eingelegt haben. Er sagt: "Dass wir entschlossen sind, das Gesetz nicht gegen andere Gewerkschaften anzuwenden, schließt keineswegs aus, dass andere es gegen uns in Anwendung bringen."

Und die Arbeitgeber? In besonders heftige Auseinandersetzungen ist seit Längerem die Lufthansa verwickelt, mal mit Verdi, mal mit der VC, mal mit der Unabhängigen Flugbegleiter-Organisation (UFO), mal mit mehreren dieser drei Gewerkschaften zugleich. Welche Gewerkschaft in welchem Betrieb des Konzerns jeweils mehr Mitglieder hat - dazu mag es Vermutungen geben, aber bislang keine Gewissheit. Die Lufthansa könnte also das Gesetz anwenden und auf Zählung bestehen.

Sie unterlässt dies aber tunlichst. Würde sie ermitteln lassen, dass eine Gewerkschaft bei der einen Tochterfirma stärker ist als die andere - sie schüfe sich nur eine besonders leidenschaftliche Gegnerin in einer anderen Tochterfirma, in der es womöglich andersherum ist. Außerdem, wäre es nicht recht töricht als Arbeitgeber, ausgerechnet vor der Verhandlung des Verfassungsgerichts eine Gewerkschaft zu beschneiden und den Richtern somit ein Exempel zu liefern? Ein Insider sagt: "Im Moment warten alle nur ab, wie das in Karlsruhe ausgeht."

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