Wird Deutschland zum Streikland? Die Frage stellten sich in den vergangenen beiden Jahren zahlreiche Kommentatoren und Experten, und der Eindruck ließ sich durchaus gewinnen. Bedingt unter anderem durch die Corona-Pandemie und den russischen Angriffskrieg in der Ukraine war die Inflation stark angestiegen, viel mehr Menschen als sonst diskutierten plötzlich über die Höhe ihrer Löhne, und die Gewerkschaften riefen in den zunehmend konfliktreichen Tarifrunden eine Reihe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zum Streik auf.
Im Jahr 2023 etwa legten – ohne Anspruch auf Vollständigkeit –Paketbotinnen und Bankangestellte, Drucker, Ärzte, Pilotinnen, Stahlarbeiter und Erzieher die Arbeit nieder. Natürlich überzog auch der inzwischen im Ruhestand befindliche, damals aber noch sehr umtriebige Lokführerführer Claus Weselsky die Republik mit schier nicht endenden Streikwellen.
Der deutsche Arbeitnehmer streikt im Schnitt pro Jahr „in etwa so lange, wie eine Kaffeepause dauert“
Der Schluss nun, Deutschland werde zur Streikrepublik, wäre trotzdem voreilig – zu diesem Ergebnis kommt eine neue Auswertung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Zwar habe das Arbeitskampfvolumen in Deutschland infolge der höheren Inflation klar zugenommen, schreiben die Autoren des „Europäischen Tarifberichts“, Thilo Janssen und Malte Lübker; im Jahr 2023 fielen streikbedingt insgesamt 1,5 Millionen Arbeitstage aus, 2022 hatte der Wert noch etwa halb so hoch gelegen. Das Jahr 2024 war nach Einschätzung der Autoren ebenfalls „überdurchschnittlich konfliktintensiv“, auch wenn abschließende Daten dazu noch nicht vorliegen.
Schaut man jedoch auf den größeren Trend, dann ergibt sich ein anderes Bild. In früheren Jahren, 2015 etwa oder in den 1970er- und 1980er-Jahren, sei die Streikbereitschaft höher gewesen, schreiben die Autoren. Insgesamt verlaufe sie eher in Wellen. Langfristig betrachtet sei das Streikvolumen außerdem gering: Im Zehnjahrestrend kommt Deutschland auf 21 Streiktage jährlich pro 1000 Arbeitnehmer. Umgerechnet heißt das, dass jeder Arbeitnehmer etwa 10 Minuten pro Jahr streikt – „also in etwa so lange, wie eine Kaffeepause dauert“, heißt es in einer Mitteilung zur Studie.
In anderen Ländern ist man mehr zum Arbeitskampf aufgelegt
In anderen europäischen Ländern ist das Streikvolumen der Auswertung zufolge deutlich höher: Belgien etwa kommt im Vergleichszeitraum auf 107 Tage pro 1000 Arbeitnehmer, Frankreich auf 102 und Finnland auf 93 Tage. Die bisher eher ruhigen Tarifrunden des Jahres 2025 und der Rückgang der Inflation – bisherige Prognosen gehen von etwa zwei Prozent für 2025 aus, 2023 lag der Wert bei 5,9 Prozent – sprechen zudem dafür, dass die Streikbereitschaft in Deutschland derzeit wieder zurückgeht.
Die häufigeren Arbeitskämpfe der vergangenen Jahre haben sich für die Arbeitnehmer in Deutschland durchaus ausgezahlt: Die Tariflöhne stiegen der Auswertung zufolge seit 2022 real um 2,8 Prozent. Das ist ein etwas stärkerer Anstieg als im Durchschnitt der 20 Länder der Euro-Zone, aber deutlich weniger als in Österreich (plus 5,4 Prozent), in Portugal (plus 4,5 Prozent) oder in der Slowakei (plus 3,8 Prozent).
Das heißt jedoch nicht, dass sich die Einkommen der Beschäftigten schon vollständig vom Inflationsschock erholt hätten. Seit 2020 haben die Tarifbeschäftigten in Deutschland der Studie zufolge 4,7 Prozent an Kaufkraft verloren; die Lohnsteigerungen konnten also die Teuerung der folgenden Jahre noch nicht kompensieren. Bei vielen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland, die nicht nach Tarif bezahlt werden – rund 51 Prozent sind es laut Statistischem Bundesamt –, dürften die Kaufkraftverluste noch höher sein.
Das einzige der untersuchten europäischen Länder, das es laut der Studie geschafft hat, die Lohneinbußen durch die hohe Inflation vollständig wettzumachen, ist Portugal. Die Tariflöhne stiegen dort seit 2020 um 6,7 Prozent. Deutlich weniger Geld im Portemonnaie haben hingegen die italienischen und die tschechischen Arbeitnehmer. In Italien sanken die Tariflöhne seit 2020 real um 9,1, in Tschechien sogar um 11,4 Prozent.

