Streiks in Großbritannien:"Sollte es Tote geben, hat dies die Regierung zu verantworten"

Streiks in Großbritannien: Mitglieder des Royal College of Nursing (RCN) streiken am Dienstag vor dem Queen Elizabeth Hospital in Birmingham.

Mitglieder des Royal College of Nursing (RCN) streiken am Dienstag vor dem Queen Elizabeth Hospital in Birmingham.

(Foto: Jacob King/dpa)

Verspätete Weihnachtspost, gestrichene Züge, kaum Krankenwagen: Vor den Feiertagen lähmt eine historisch heftige Streikwelle Großbritannien. Der Protest soll nach Weihnachten weitergehen.

Von Miriam Dahlinger

Glühwein auf der Weihnachtsfeier oder Schlittschuhlaufen im Hyde Park? Besser nicht! Die britische Regierung und der staatliche Gesundheitsdienst rieten den Menschen Anfang der Woche, die Vorweihnachtstage nicht allzu fröhlich zu verbringen. Auf unnötige Autofahrten solle ebenso verzichtet werden wie auf Kontaktsportarten hieß es von Seiten der Regierung. Stephen Powis, der medizinische Direktor des staatlichen Gesundheitsdienstes in England, warnte davor sich "blind zu betrinken".

Grund war ein massiver Streik der Krankenwagenfahrer in ganz England und Wales. Zwar konnten akute Notfälle auch während des Streiks der etwa 25 000 Beschäftigten des Rettungsdienstes versorgt werden, jedoch waren die Britinnen und Briten aufgerufen worden, den Notruf nur in Lebensgefahr zu wählen. Außerdem hatte die Regierung einige Hundert Soldaten mobilisiert, um während des Ausstands als Fahrer von Krankentransporten auszuhelfen.

An Heiligabend streiken die Mitarbeiter bei der Bahn

Kurz vor Weihnachten ist die Stimmung im Vereinigten Königreich angespannt: Seit Wochen streiken Krankenpflegerinnen und Feuerwehrleute, Postboten und Grenzbeamte, um für höhere Löhne auf die Straße zu gehen. Das sorgt kurz vor den Feiertagen für reichlich Chaos: Ohne Auto dürfte es schwierig werden, die Familie zu besuchen, denn an Heiligabend treten erneut die Bahnmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in den Streik. Und auch an den Flughäfen werden lange Schlangen erwartet, wenn von Freitag bis Silvester die Grenzbeamten in den Arbeitskampf ziehen. Manche Flüge werden wohl komplett gestrichen.

Nicht einmal die Weihnachtspost soll vielerorts ankommen, denn auch die Postboten der Royal Mail legen am Freitag und Samstag nicht zum ersten Mal ihre Arbeit nieder. Laut der Nachrichtenagentur dpa erhalten ganze Straßenzüge derzeit höchstens einmal pro Woche Post. In den Depots stapeln sich demnach bergeweise Briefe und Päckchen, auch sollen Royal-Mail-Manager dazu aufgerufen worden sein, Verwandte und Freunde zu rekrutieren, um beim Sortieren zu helfen.

Die britische Regierung weigert sich derweil, den Forderungen der Gewerkschaft nach mehr Lohn nachzugeben. Nach den Corona-Hilfen sei einfach kein Geld mehr da, heißt es wiederholt. Premierminister Rishi Sunak sagte, er sei "wirklich enttäuscht", dass die Gewerkschaften zu diesen Streiks aufriefen, "vor allem an Weihnachten, vor allem wenn es solche Folgen für den Alltag der Menschen hat". Anfang des Monats hatte Sunak noch damit gedroht, das Streikrecht einzuschränken, sollten sich die Gewerkschaften weiterhin "unvernünftig" verhalten.

Doch der Premier sieht sich der Kritik ausgesetzt, nicht genug zu tun, um den Unruhen ein Ende zu setzen. Der Oppositionsführer von der Labour-Partei, Keir Starmer, sagte vor dem Streik der Pflegekräfte vergangene Woche etwa, dass "das ganze Land aufatmen würde", wenn Sunak den Streik durch eine Einigung mit der Gewerkschaft der Pflegekräfte beendete.

Sie liebt ihre Arbeit, sagt die Pflegerin - aber sie muss auch ihr Kind ernähren

Währenddessen goss der konservative Gesundheitsminister Steve Barclay Benzin mit dem Vorwurf ins Feuer, dass sich die streikenden Krankenhausangestellten bewusst dafür entschieden hätten, Patientinnen und Patienten zu schaden. Die Unison-Gewerkschaftsführerin Christina McAnea wies die Kritik scharf zurück: "Sollte es Tote geben, hat dies die Regierung zu verantworten." Die Lage im britischen Gesundheitssystem war wegen des Sparkurses der Regierung und anhaltender Personalnot schon vor den Streiks angespannt: Mehr als sieben Millionen Menschen warten auf Routineeingriffe, Notärzte brauchen länger als geplant, und vor den Notaufnahmen stauen sich die Krankenwagen.

"Wir streiken, weil wir buchstäblich nicht wissen, was wir sonst tun sollen," erzählt Catherine Christie aus Nordostengland der Süddeutschen Zeitung. Die 47-jährige Anästhesiepflegerin schloss sich vergangene Woche an ihrem Ruhetag den Protesten ihrer Kolleginnen an. "Ich liebe meine Arbeit und meine Patienten, aber ich muss auch in der Lage sein, mein Kind zu ernähren und meine Rechnungen zu bezahlen." Als alleinerziehende Mutter eines Teenagers sei es für sie extrem schwierig mit den steigenden Energierechnungen und den höheren Preisen mitzuhalten.

Streiks in Großbritannien: Die Pflegerin Catherine Christie streikte mit ihrem Bruder, auch er ist Krankenpfleger für Anästhesie.

Die Pflegerin Catherine Christie streikte mit ihrem Bruder, auch er ist Krankenpfleger für Anästhesie.

(Foto: privat)

Die Berufsgruppen streiken zwar für spezifische Anliegen, fordern aber in der Regel höheren Lohn und mehr Personal. Großbritannien befindet sich in einer Wirtschaftskrise, die Inflation liegt mit elf Prozent so hoch wie seit mehr als 40 Jahren nicht mehr. Nach Zahlen des Statistikamts sind die Reallöhne im Vereinigten Königreich bis Juni so stark gesunken wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2001. Besonders betroffen sind Bedienstete des öffentlichen Sektors. Laut dem Office for Budget Responsibility (OBR), das unabhängige Finanzanalysen erstellt, werden Bri­tin­nen und Briten erst im Jahr 2027 durchschnittlich wieder so viel verdienen wie 2008.

Im kommenden Jahr wollen die Gewerkschaften die Streiks ausweiten. Für Januar kündigten etwa die Leh­re­rin­nen und Lehrer an, für zwei Tage die Arbeit niederzulegen.

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