Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Ein Land im Streik

Im heftigsten Tarifkampf seit einem Jahrzehnt legen Hunderttausende Briten ihre Arbeit nieder. Sie demonstrieren für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und das Recht, auch künftig streiken zu dürfen.

Von Miriam Dahlinger

Britische Eltern, die mit dem Zug zur Arbeit fahren oder ihre Kinder zur Schule bringen wollten, blieben am Mittwoch besser zu Hause: Am wohl größten Arbeitskampftag seit mehr als einem Jahrzehnt streikten in Großbritannien etwa eine halbe Million Menschen - und das gleich über mehrere Branchen hinweg. Neben Lehrerinnen und Lokführern legten auch Hochschuldozentinnen und Grenzschutzbeamte die Arbeit nieder. Sieben Gewerkschaften koordinierten den von ihnen ausgerufenen nationalen Protesttag.

Die Regierung hatte die Bevölkerung bereits vorab vor "erheblichen Störungen" gewarnt. Die Nationale Bildungsgewerkschaft rechnete damit, dass ihre Aktionen etwa 85 Prozent aller Schulen in England und Wales treffen würde. Landesweit standen Züge still und auch bei den Grenzkontrollen an Flughäfen und Fährhäfen kam es zu Beeinträchtigungen.

Der "Winter des Unmuts" geht weiter

"Ich streike, weil die Regierung nicht zuhört", sagt Ed Finch, 51, Schulleiter in Südwestengland, am Telefon. Ihm gehe es vor allem um die Arbeitsbedingungen: "Es gibt immer weniger Lehrer, weniger Lehrassistenten, das übt Druck auf alle aus und das schadet den Kindern." In seiner Schule beobachte er einen Anstieg psychischer Probleme bei Schülerinnen und Schülern, aber auch bei seinen Kollegen. "In meiner Schule gibt es Lehrer, die auf dem Weg zur Arbeit im Auto weinen und auf dem Weg nach Hause wieder weinen", erzählt Finch. Viele hätten das Gefühl, den Kindern nicht gerecht zu werden. Also sage er ihnen: "Du tust alles, was du kannst, aber du wirst von einer gierigen, korrupten Regierung im Stich gelassen." Um Lücken zu stopfen, unterrichtet Finch selbst manche Klassen, auch wenn ihm diese Zeit fehlt, um seinen eigentlichen Job als Schulleiter so ausfüllen zu können, wie es nötig wäre.

Mit dem Massenstreik erhöhten die Gewerkschaften den Druck auf die Regierung in London. Seit Monaten gehen in diesem "Winter des Unmuts" Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes auf die Straße. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen, vor allem aber auch deutlich höhere Löhne, um die stark gestiegenen Preise für Strom, Heizung und Lebensunterhalt bezahlen zu können. Angesichts einer Inflation von etwa zehn Prozent ist die Unzufriedenheit bei vielen Beschäftigten im Land enorm.

Die Regierung will das Streikrecht beschränken

Bildungsministerin Gillian Keegan sagte dem Sender "Times Radio", sie sei "enttäuscht", dass der Streik der Lehrkräfte in England und Wales fortgesetzt werde. Der Arbeitskampf sei unnötig, da die Gespräche mit den Gewerkschaften weitergingen. Bisherige Angebote der Regierung hatten die Gewerkschaften abgelehnt, etwa fünf Prozent mehr Gehalt für Lehrkräfte - was den Anstieg der Lebenshaltungskosten nicht annähernd ausgleichen würde. Nach Monaten bisher ergebnisloser Verhandlungen sei eine Einigung "weiter entfernt als zu Beginn", sagte Mick Whelan, Chef der Lokführergewerkschaft Aslef.

Die Streikwelle bringt Premierminister Rishi Sunak in Bedrängnis. Der Premier argumentiert seit Monaten, dass schlicht das Geld fehle, um die Folgen der Inflation voll abfedern zu können. Eine an die Inflation angepasste Anhebung würde den "Teufelskreis" immer weiter steigender Verbraucherpreise nur antreiben.

Doch mit einem umstrittenen Gesetzesvorhaben hat die Regierung den Zorn vieler Streikender noch weiter befeuert. Sunak und sein Wirtschaftsminister Grant Shapps wollen damit das Streikrecht für Polizisten, Feuerwehrleute, Mitarbeiter des staatlichen Gesundheitssystems NHS oder Bahnpersonal einschränken. Das solle, argumentiert Sunak, die Grundversorgung gewährleisten. Paul Nowak, der Vorsitzende des gewerkschaftlichen Dachverbands TUC, nannte die Pläne dagegen "undemokratisch, nicht durchführbar und mit ziemlicher Sicherheit illegal". Streikende Arbeitnehmer müssten fürchten, ihre Jobs zu verlieren.

Für die kommenden Tage sind weitere Streiks angekündigt. Dann wollen das Pflegepersonal in den Kliniken und auch die Feuerwehrleute die Arbeit niederlegen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5743408
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/jbb
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.