Süddeutsche Zeitung

Streben nach Unabhängigkeit:Gute Zeiten für Europas Separatisten

Spanien, Großbritannien, Deutschland: In den Staaten des Westens wächst der Wunsch nach politischer Überschaubarkeit. Doch die Staatsoberhäupter setzen sich mit den Bedürfnissen ihrer Bürger zu wenig auseinander.

Kommentar von Stefan Kornelius

Der gütige König, der Vater seines Volkes - vielleicht gab es den noch in Grimms Drosselbart. Im Märchen ist der König immer der Vater der Sippe, selten ein böser, oft ein guter, mal ein Volksvorsteher, besser aber ein Volksversteher. Er hält die Menschen zusammen und stiftet Zuversicht.

Was im Märchen funktioniert, klappt in der Realität immer seltener. In Spanien hat der König gerade einen Teil seines Volkes verloren und mit einer legalistischen Rede die Furcht vor einer Spaltung des Landes verstärkt. In Großbritannien hat die Monarchin geschwiegen, als die Schotten das gespaltene Königreich schaffen wollten oder als die Briten aus der EU hinausstrebten. Geholfen hat diese selbstverordnete Zurückhaltung auch nicht. Ob der König nun Präsident heißt oder Premier: Wuchert erst mal der Spaltpilz in einem Staatsgefüge, gelingt die Versöhnung immer seltener.

Separatisten gaukeln eine heile Welt vor, die es so nicht mehr gibt

Jede Separatisten-Bewegung folgt ihrem eigenen Antrieb: historischer Schmerz, politische Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Benachteiligung, Respektlosigkeit. Einer Abspaltungsbewegung liegt ein tiefer Zorn zugrunde, die Wut auf das herrschende System, die da oben, oder noch vager: die Umstände. Man will es besser, einfacher, überschaubarer. Man will es für sich selbst haben.

Separatismus ist deshalb der Halbbruder von Nationalismus und Isolationismus. Alle drei Spielarten der Igel-Politik eint das tiefe Bedürfnis nach Eigenständigkeit und Autarkie. Die Loslösung von der übrigen Welt, die Einkehr zu sich selbst, scheint etwas Tröstliches zu bieten: Sicherheit, Überschaubarkeit, Selbstbestimmung.

Es wundert nicht, dass Separatismus, Isolationismus und auch Nationalismus Konjunktur feiern in einer Zeit, die von vielen Menschen als Überforderung wahrgenommen wird. Von Erbil bis Ingolstadt verspricht die politische Führung Klarheit und Wahrheit. "America first" gibt es in der ganzen Welt.

Spanische Nation fordert zu viele Kompromisse

Ganz egal, ob - wie im Fall der Kurden - Separatismus einem ethnischen Grundbedürfnis folgt, oder ob - wie im Fall der Bayern-CSU - die Abgrenzung dem Selbsterhalt dient: Spalter kapitulieren in der Regel vor der Komplexität der Gemeinschaft. In Barcelona ist das nicht anders: Die spanische Nation fordert aus Sicht der Katalanen zu viele Kompromisse ein. Also versprechen die Sezessionisten bessere Zustände in der Eigenständigkeit. Der Stolz muss schon sehr ausgeprägt sein, um die Risiken dieser Loslösung derart zu ignorieren.

Wer in diesen Tagen die politischen Büchertische der Buchhandlungen betrachtet, der erhält die deutsche Spielart dieses Selbstfindungs-Versuchs: "Was ist Deutsch", "Erinnerungen einer Nation", "Die Deutschen und ihre Nation", "Heimaterde" heißen die Titel, die von offenbar tiefen Selbstzweifeln und dem Bedürfnis nach Halt zeugen. Das ist erstaunlich für ein Land, das sich in besseren Momenten schon mal als postnational betrachtet hat und dem die historische Erfahrung mit Identität und Vaterland hinreichend die Sehnsucht nach hohlen Phrasen ausgetrieben haben sollte.

Aber ebenso, wie man sich über das katalanische Bedürfnis nach Identität nicht einfach hinwegsetzen sollte, darf man auch die anderen Spielarten dieser Spalt- und Abgrenzungspolitik nicht ins Lächerliche ziehen - immerhin hat diese Politik einen Donald Trump ins Weiße Haus gebracht und die Briten aus der Europäischen Union getrieben. Und, siehe Büchertisch und Ergebnis der Bundestagswahl: Auch die Deutschen sind nicht immun gegen die Verlockungen einer scheinbar heilen Welt ohne Flüchtlinge und Billigarbeiter aus dem Osten.

Was also ist die Antwort an die Katalanen? Felipe VI. hat sie nicht gegeben, weil es nicht ausreicht, einen Rechtszustand zu referieren. Der König im Märchen hätte seine Güte und Weisheit spüren lassen, von den enormen Fliehkräften in der Welt gesprochen, von einer geradezu revolutionären Zeit des Umbruchs, die in der Tat vielen sehr viel abverlangt. Er hätte Empathie gezeigt für die Sorgen und Sympathie für den einen oder anderen Wunsch seiner Abtrünnigen.

Dann aber hätte er sie auch mit der harten Wahrheit konfrontiert: Dass es eben kein gutes Leben im Kleinen gibt, solange das Große und Ganze nicht stimmt; dass Verstecken nicht möglich ist in einer Welt, in der jedes Gesicht von einem Computer erkannt werden kann. Vielleicht wäre man mit diesem Ton ins Gespräch gekommen und hätte Verständnis füreinander entwickelt, anstatt neue Erregung zu züchten. Felipe mag es nicht verstanden haben, aber im Kern besteht bei Katalanen, Briten und all den anderen Sezessionisten noch immer die Sehnsucht nach dem gütigen König. Wie im Märchen.

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Quelle:
SZ vom 05.10.2017
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