Strategie für gut bezahlte Jobs:Zwischen den Giganten

Europa sollte Zukunftstechnologien stärken, zum Beispiel die künstliche Intelligenz. Die staatlich gestützten Wettbewerber aus China und den USA haben die Regeln der Weltwirtschaft verändert.

Von Alexander Hagelüken

Strategie für gut bezahlte Jobs: Illustration: Marc Herold

Illustration: Marc Herold

Die Bundeskanzlerin und Frankreichs Präsident zeigen öfter mal Meinungsunterschiede. Bei einem Thema aber waren sich Angela Merkel und Emmanuel Macron diese Woche auffällig einig: Europa soll künftig aktive Industriepolitik betreiben, um mit den USA und China mitzuhalten. "Wir spüren alle, dass sich im Augenblick tektonische Verschiebungen ergeben", sagte Merkel. In asiatischen Ländern, aber auch andernorts, werde weit über eine Wahlperiode hinaus geplant. Daher sollen Politik und Wirtschaft in Europa künftig eng zusammenarbeiten. Ende März berät darüber ein EU-Gipfel.

Das sind völlig neue Töne, jedenfalls von deutschen Spitzenpolitikern mit CDU-Parteibuch. Vor Merkel erregte bereits Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) mit einem Papier Aufsehen. Aktive Industriepolitik war gerade in Deutschland lange verpönt. Der Staat fördert massiv vielversprechende Branchen, auf dass dort die Arbeitsplätze der Zukunft entstehen? Lieber nicht. Der Staat, so das ordoliberale Credo, soll günstige Rahmenbedingungen für die Unternehmen schaffen - und sich ansonsten heraushalten. "Ökonomen lieben den Markt", riefen vier der sogenannten Wirtschaftsweisen barsch, als 2017 der fünfte Sachverständige Peter Bofinger Industriepolitik forderte.

Skeptiker verweisen auf die Probleme mit der deutschen Steinkohle, die Politiker einst für strategisch wichtig erklärten - und dann Milliarden zahlten für ein Zechenwesen, das schon in den 1960er-Jahren unwirtschaftlich wurde. Und sie spotten über Brasilien oder Malaysia, deren Regierungen kläglich scheiterten, auf dem Reißbrett erfolgreiche Computer- oder Autokonzerne zu entwerfen.

Ist die Bundesrepublik mit ihrem staatsfernen Modell nicht gut gefahren? Konzerne und Mittelständler "Made in Germany" rollten lange die Weltmärkte auf, mit Autos, Maschinen oder Chemie. Wenn nötig, senkte eine Bundesregierung Steuern und Sozialkosten, um es den Firmen einfacher zu machen. Das war unterm Strich erfolgreicher als die französische Tradition, sich bei den Unternehmen einzumischen.

Inzwischen aber sehen viele Fachleute eine neue Lage. Jahrzehntelang bescherte der Strukturwandel der Bundesrepublik wie anderen westlichen Staaten viele neue, besser bezahlte Jobs. Deutschland exportierte Maschinen, da war es egal, dass Textilfabriken nach Asien abwanderten. Doch inzwischen geben sich Länder wie China längst nicht mehr mit Branchen wie Textil zufrieden. Sie wollen an die Spitze bei Autos, Medizin und Digitalem. "Wenn China und die USA bei der Hochtechnologie überall Weltmarktführer werden und die gut bezahlten Arbeitsplätze besetzen, hat Deutschland ein Problem", warnt Sebastian Dullien, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. "Ohne Industriepolitik gerät Europa gegenüber China und den USA massiv ins Hintertreffen."

Die Regierung in Peking legte 2015 einen Masterplan auf, der Unternehmen dominant im eigenen Land und stark auf dem Weltmarkt werden lassen soll. Dazu definierte sie zehn strategische Bereiche von der Informationstechnik über Roboter, Energie, Elektromobilität und Pharma bis zu neuen Materialien. Also ziemlich viel von dem, was die Wirtschaft von morgen ausmachen könnte. Im Paket enthalten: gigantische Finanzspritzen - und Hürden für ausländische Unternehmen, die in China nicht so frei agieren können wie etwa chinesische Unternehmen in Europa.

19 Milliarden Euro

So viel Geld steckt Chinas Regierung in die Förderung der Halbleiterindustrie. Der Weltmarktanteil der europäischen Hersteller ist inzwischen auf fünf Prozent gesunken. Die Bundesregierung hält jetzt selbst mit Subventionen dagegen. Doch die betragen nur einen Bruchteil der chinesischen Summe. Dabei werden die Chips für Zukunftsmärkte wie schnelle Datennetze oder autonomes Fahren gebraucht.

Auch andere asiatische Nationen wie Japan und Südkorea machen deutschen Unternehmen schon harte Konkurrenz. Im Fall Chinas aber kommt die Größe dazu: Die weltweit zweitgrößte Volkswirtschaft hat mit 1,4 Milliarden Menschen 18 Mal so viele Einwohner wie die Bundesrepublik.

All diese Entwicklungen bringen selbst marktliberale Ökonomen wie Clemens Fuest ins Grübeln. "Durch Chinas autoritären Staatskapitalismus hat sich etwas geändert", sagt der Präsident des Münchner Ifo-Instituts. "Prinzipiell finde ich es gut, über eine Industriepolitik der Zukunft nachzudenken." Fuest sieht als Hauptproblem, dass Peking den eigenen Markt abschottet. "Man sollte China drohen, die Aktivitäten chinesischer Firmen in Europa zu beschränken, bis es selbst seinen Markt mehr öffnet."

Die bisher so starke Stellung deutscher Firmen ist noch von einer anderen Seite bedroht. Von US-Digitalgiganten wie Amazon, Google, Microsoft oder Facebook, die Einkaufen, Suchmaschinen oder Social Media monopolartig dominieren. Mithilfe ihrer riesigen Gewinne kaufen sie Rivalen auf, die ihnen gefährlich werden könnten. So saugen sie in Europa entwickelte Technologie ab wie die Videotelefonie Skype. Die chinesisch-amerikanische Doppel-Offensive ist Anlass, die pauschale Ablehnung von Industriepolitik zu überdenken. "Wir kommen mit dem, was wir vor zehn, zwanzig Jahren entwickelt haben, einfach nicht mehr hin", sagt die Kanzlerin.

Japan, Südkorea oder Taiwan setzten das Instrument schon in der Vergangenheit erfolgreich ein, oft gegen den Rat westlicher Institutionen - und wurden erst so zu Industrienationen. Die USA, offiziell Gralshüter der Marktwirtschaft, pflegen schon immer das Zusammenspiel von Militäraufträgen, Forschung und Firmen. Davon profitierten etwa zivile Flugzeughersteller. Auch ein Anstoß für das autonome Fahren kam daher, als das amerikanische Verteidigungsministerium einen Test in der Wüste ausschrieb. Mariana Mazzucato vom University College London listet in ihrem Buch "Der unternehmerische Staat" auf, was das iPhone zum Meilenstein machte. Das Internet genauso wie GPS, Touchscreen-Display und Siri. Ihre Pointe: Wurde alles vom oder mit dem Staat entwickelt.

Und Europa selbst? Kennt auch erfolgreiche Beispiele. Hätten die Regierungen in den 1970er-Jahren nicht kleine Hersteller zu Airbus fusioniert und anschließend subventioniert, hätte Boeing ein Monopol und Europa heute keine Flugzeugproduktion mehr.

Wie aber könnte eine moderne Industriepolitik für Europa aussehen? Gerade schälen sich vier große Punkte heraus. Das erste ist das Modell Airbus, nur ohne Subventionen: Die Formung europäischer Champions etwa durch eine Fusion der Zugsparten von Siemens und Alstom. Das untersagte jetzt die Brüsseler Kommission. Deutschland und Frankreich erwägen, die EU-Regierungen künftig solche Verbote kippen zu lassen - analog der deutschen Ministererlaubnis, welche die Fusion von Edeka und Tengelmann ermöglichte. Ifo-Präsident Clemens Fuest geht das zu weit: "Es wäre nicht gut, europäische Champions zu schaffen. Da besteht die Gefahr, dass sich etablierte Unternehmen Privilegien zuschustern lassen und faule Monopolisten werden."

Fuest will stattdessen bahnbrechende Technologie wie künstliche Intelligenz, 3-D-Druck oder Elektromobilität deutlich stärker fördern als bisher - und gleichzeitig sicherstellen, dass sich dann mehrere Firmen Konkurrenz machen. Die Bundesregierung setzte in Brüssel bereits durch, dass die Regeln gelockert werden, um die international zurückgefallene Halbleiter-Fertigung Europas wieder hochzupäppeln. Sebastian Dullien will Innovationen anregen, indem der Staat nach amerikanischem Muster Projekte bezahlt, für die sich nur europäische Firmen bewerben dürfen: Wer entwickelt einen Bus, der nur drei Liter verbraucht? Wer baut eine Batteriefabrik für E-Autos? Die Gefahr ist, dass dabei Subventionsgräber entstehen wie bei der Steinkohle. Asiatische Vorbilder zeigen aber: Wenn sich Unternehmer, Forscher und Politiker zusammensetzen, entwickeln sie oft ein Gespür dafür, was zukunftsträchtig ist.

Dullien würde dann, drittens, noch einen Schritt weiter gehen: innovative heimische Firmen eine Weile vor außereuropäischer Konkurrenz schützen, damit sie zu einer global wettbewerbsfähigen Größe heranwachsen - statt vorher von amerikanischen oder chinesischen Rivalen aufgekauft oder plattgemacht zu werden.

So theoretisch solche Gedanken noch sind, so konkret ist ein anderer Sinneswandel. Lange Jahre ließ die Bundesregierung ausländische Investoren aufkaufen, was sie haben wollten. Selbst wenn sie aus China kamen, wo das Europas Firmen verwehrt wird. Als die chinesische Midea Group 2016 den Augsburger Roboterhersteller Kuka schluckte, begann ein Umdenken. Den chinesischen Aufkauf des Stromnetzbetreibers 50 Hertz verhinderten die Berliner Politiker vergangenes Jahr - damit hätte eine ausländische Macht Nord- und Ostdeutschen im Wortsinn das Licht ausknipsen können. Es wird langsam Konsens, dass Schlüsselfirmen wie Bosch oder die Deutsche Bank nicht in außereuropäische Hand fallen sollten.

Wie stets, wenn sich 27 EU-Regierungen zusammenraufen sollen, stellt sich nun die große Frage: Werden sie über eine gemeinsame Industriepolitik einig? Und kleckern sie dann nur, während China klotzt? Das wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Eines aber erscheint klar: Weil sich die Welt wandelt, bewegt sich Europa - Industriepolitik ist nicht mehr das Tabu, das es jahrzehntelang war.

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