Straßenlärm:Sounds of silence

Einst galt Verkehrslärm als Chiffre der Moderne. Längst vorbei. Als neue Zukunftsvision vermarkten Autobauer jetzt die Elektromobilität, die uns vom Krach auf den Straßen befreien soll.

Von Gerhard Matzig

Der Lichtenbergplatz in Hannover bildet einen Kreis. In der Mitte steht ein mächtiger Baum. Unter dessen weit ausladender Krone befindet sich ein Kinderchor. Die Mädchen und Jungen singen - aber kaum etwas ist zu hören. Die Musik hat keine Chance gegen den Höllenlärm der Stadt.

Sechs Autostraßen erschließen das Rondell, weshalb sich zwischen ornamentreichen Hausfassaden aus der Gründerzeit ein Strom lautstarker Vehikel auf den Platz ergießt. Zu hören ist das nervtötende Quietschen einer Bremse, die Aggressivität eines Sportwagens und ein grummelndes Lastwagen-Ötlötlötl. Drinnen, in einer Wohnung, wird erbost ein Fenster zugeschlagen; draußen, in der Stadt, hält sich eine junge Frau das Ohr zu, während sie in ihr Handy spricht. Die Kamera nimmt den feuerbereit aussehenden Auspuff eines Motorrads in den Blick. In der Stadt ist der Mensch, was den Krach betrifft, oft beides: Opfer und Täter.

Die Szenerie stammt aus einem aktuellen Werbeclip. Er wurde im Internet schon hunderttausendfach herumgereicht. Denn in dem Spot passiert Erstaunliches: Plötzlich verebbt der Sound der Stadt. Immer mehr weiße Autos - mit Wolfsburger Kennzeichen - umrunden nun den Lichtenbergplatz, der sich in eine seltsame Stille hüllt. Die Menschen blicken auf, stutzen - und lauschen. Zu hören ist jetzt nicht mehr das Gebrumm der Motoren, sondern der Gesang der Kinder. Glockenhell singen sie: "Enjoy the Silence" (genieß die Ruhe), den Song von Depeche Mode. Jenes Fenster, das eben noch zugeschlagen wurde, wird wieder geöffnet. Und am Ende entrollt sich auf einer Backsteinfassade ein riesiges Banner: "Enjoy the Silence - Powered by Volkswagen e-Mobility".

Der Clip, unschwer zu erkennen, wirbt für die geräuscharm dahinsurrenden Elektroautos von VW, die der affärengeplagte Konzern nun zu Hunderttausenden auf die Straßen bringen will. So wie die gesamte Konkurrenz in Deutschland. Alle scheinen zur selben Zeit die Elektromobilität als Wachstumssegment der kommenden Jahrzehnte entdeckt zu haben. Mit enormen Konsequenzen für die Städte, wo die Menschen nicht nur unter Feinstaub und Abgasen der automobilen Gegenwart leiden, sondern unter mitunter infernalischem Straßenlärm. Stille in den Städten - ist das eine Zukunftsvision mit realem Hintergrund oder bloße Werbemasche?

Der Hintergrund: Aus der "Sinfonie der Großstadt", im gleichnamigen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1927 noch hymnisch verklärt als Chiffre der Moderne, wurde schon längst eine dissonante Kakofonie. Verkehrslärm verursacht in der EU jährliche Kosten von 40 Milliarden Euro. In Städten lebt es sich entlang der Ausfallstraßen und inmitten der Zentren oft wie auf der Membran eines außer Kontrolle geratenen Basslautsprechers.

Das ist deutscher Alltag in einem dicht bebauten, infrastrukturell komplett erschlossenen Land, in dem sich einer Studie des Umweltbundesamtes (UBA) zufolge "mehr als die Hälfte der Wohnbevölkerung durch Straßenverkehrslärm belästigt fühlt". Wobei Deutschland wie keine zweite Nation vom Auto lebt, weshalb es hierzulande trotz ernster Hinweise von Medizinern noch immer keine Regelung zum Schutz vor Straßenverkehrslärm gibt.

e-Auto Uli Oesterle

Illustration: Uli Oesterle

Offensichtlich nimmt man behördlicherseits den einen oder anderen Herzinfarkt in Kauf. Ab einer Lautstärke von 55 Dezibel steigt das Infarktrisiko bei Dauerbelastung erheblich. Der normale Straßenverkehrslärm allein bringt es schon auf durchschnittlich 75 Dezibel. In der "staden" Zeit, also der angeblichen Stille des Advents, wird noch deutlicher als sonst, wie laut die Städte eigentlich sind.

Das Umweltbundesamt bleibt skeptisch: E-Autos seien nicht der "ersehnte Durchbruch"

Auch der Lichtenbergplatz in Hannover ist nicht nur ein herrlich proportionierter und nach den Grundsätzen des "malerischen Städtebaus" geformter Platz, wie sie der österreichische Städteplaner und Architekt Camillo Sitte im 19. Jahrhundert formulierte. Heute ist ein Platz wie dieser, das macht der VW-Spot mehr als deutlich, eben auch Stätte potenzieller Gesundheitsgefährdung. Die Botschaft, die wispernd ankommen soll in Gehörgängen und im Unterbewusstsein, ist klar: Der Konzern hat nicht nur den Dieselbetrug zu verantworten oder gesundheitsschädliche Kollateralschäden der einst als Freiheitsversprechen gefeierten Mobilität. Vielmehr könnte er lärmgeplagte Städte mithilfe der aufkommenden Elektromobilität in Oasen der Ruhe verwandeln. In Zukunft. Vielleicht.

Christoph Mäckler glaubt daran. Er ist fest davon überzeugt, dass den Städten eine "revolutionäre Erneuerung" bevorsteht. Erst vor wenigen Wochen hat der Frankfurter Architekt und Professor (und Begründer des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst in Dortmund) seinen Studenten den Werbeclip gezeigt. Als Anregung. Der 65-Jährige sagt: "Wenn es gelingt, den Verkehrslärm und die Abgase in den Städten auf relevante Weise zu reduzieren, so liegt darin eine große Chance für die Rückeroberung des öffentlichen Raumes. Denken Sie nur mal an die hässlichen und eigentlich unbewohnbaren Ausfallstraßen, die wieder zu Magistralen und ersten Adressen werden könnten."

Die von Mäckler konzipierte Wanderausstellung "Plätze in Deutschland 1950 und heute: eine Gegenüberstellung" erregt schon länger Aufmerksamkeit. Sie zeigt in schlichten Schwarz-Weiß-Aufnahmen, wie sich die Ästhetik des öffentlichen Raumes von Köln über Bielefeld bis Halle infolge der allgemeinen Mobilmachung so dramatisch wie nachteilig verändert hat. Es ist, als würden die breiten, "autogerechten" Schneisen der Nachkriegszeit die Stadtgrundrisse zersägen. Zu dieser Entwicklung kommen die Emissionen, die auf den Straßen (und Schienen) erzeugt werden. Zumindest Lärm und Gestank könnten nun wieder aus den Städten verbannt werden. Etwas.

100 000 Elektroautos

will allein BMW im kommenden Jahr verkaufen, so viel wie insgesamt zwischen 2013 und 2016. Volkswagen greift noch höher: Bis 2025 soll die Marke VW Weltmarktführer bei E-Autos sein und weltweit eine Million E- und Hybridautos im Jahr absetzen. Audi will dann 25 bis 30 Prozent seines Absatzes mit E-Autos machen. Und Daimler will von 2020 an jährlich eine "wachsende sechsstellige Zahl" von Elektrofahrzeugen verkaufen.

Auch für das Wohnen selbst würde sich das positiv auswirken. "Die Häuser kranken ja oft daran, dass sie der Stadt sozusagen den Hintern zeigen", sagt der Städteplaner. "Wohnräume orientieren sich zunehmend weg von den Straßen. Die Fassaden wirken entsprechend verschlossen." Tatsächlich ist die Erfindung der Schallschutzfassade gut für die Ohren - aber meist schlecht für die Augen. Mäckler sieht in der E-Mobilität die Chance zu einer Renaissance europäischer Städte. Die hätten in den vergangenen Jahrzehnten unter der infrastrukturellen Aufrüstung mehr gelitten als unter den Verheerungen zweier Weltkriege zuvor.

Leider teilt das Umweltbundesamt diese Euphorie nicht: "Elektrofahrzeuge stellen nicht den ersehnten Durchbruch dar." Denn abgesehen davon, dass die Hersteller aus Sicherheits-, aber auch aus Imagegründen an der Weiterentwicklung des E-Sounds tüfteln (Bericht hier), würden Modellrechnungen "nur ein begrenztes Lärmminderungspotenzial bei Elektroautos" ergeben. Die "von Kraftfahrzeugen ausgehenden Geräusche bestehen nämlich aus Reifen-Fahrbahn-Geräusch und Antriebsgeräusch". Das Abrollgeräusch nimmt mit der Geschwindigkeit zu - völlig unabhängig von der Antriebstechnologie.

Das UBA-Fazit: "Selbst wenn bis 2020 eine Million Elektroautos auf Deutschlands Straßen unterwegs wären, würde dies nach unseren Schätzungen den Lärm am Straßenrand gerade einmal um 0,1 Dezibel mindern." Dennoch sehen die Experten reelle Chancen, den Straßenlärm durch Elektromobilität zu mindern, bei schweren Fahrzeugen und vor allem bei Mopeds und Motorrädern. Das relativ junge Wort "Lärm" stammt übrigens aus der Militärsprache (vom italienischen all'arme: zu den Waffen!) Zu diesen möchte man auch angesichts des Kommentars von "Mazaker" greifen. Zum VW-Spot auf Youtube formuliert der Zeitgenosse: "Hoffentlich wird es so leise, dann komm ich mit meiner Kawasaki Ninja, und man hört mich noch besser mit meinem Sportauspuff." Manche Menschen werden die bekannte Tucholsky-Sentenz nie begreifen: "Lärm ist das Geräusch der anderen."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: