Süddeutsche Zeitung

Strafverfahren in den USA:Recht und billig

Per Computer können US-Richter systematisch die möglichen Kosten eines Urteils abrufen - ehe sie es aussprechen. Interessant: Die Kosten-Nutzen-Analyse der Todesstrafe gegenüber lebenslanger Haft.

Reymer Klüver, Washington

Richter Michael Wolff findet das neue Computerprogramm prima. Er braucht zum Beispiel nur das Stichwort "unbewaffneter Raubüberfall" einzugeben, schon taucht auf seinem Bildschirm das mögliche Strafmaß auf: Haft bis zu fünf Jahren. Und gleich darunter kann er lesen, was das Urteil kosten würde: mehr als 50.000 Dollar für die Unterbringung des Angeklagten im Knast. Doch nicht nur das. Der Computer weist ihn auch darauf hin, dass es billigere Alternativen gibt. Wenn er zum Beispiel anstelle der Haft- eine Bewährungsstrafe unter strengen Auflagen aussprechen würde, verringerten sich die Kosten für denselben Zeitraum auf nur noch 9000 Dollar.

Wolff ist Vorsitzender der Strafbemessungskommission im US-Bundesstaat Missouri. Auf deren Empfehlung hin wurde das neue Computerprogramm im vergangenen Monat in den Gerichten des Bundesstaats im Mittleren Westen installiert. Es ist das erste Mal, dass Richter in den USA systematisch die möglichen Kosten eines Urteils abrufen können - ehe sie es aussprechen. Und zwar nicht nur als grobe Schätzung, sondern als individualisierte Prognose unter Berücksichtigung des Vorstrafenregisters des Delinquenten und der Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls.

Richter Wolff versichert, dass seine Kommission mit der Ausarbeitung des Computerprogramms nur den häufigen Anfragen seiner Kollegen gefolgt ist. Viele Staatsanwälte indes laufen Sturm gegen derlei Kosten-Nutzen-Analyse. "Gerechtigkeit kann nicht von einer mathematischen Formel abhängen", sagt etwa Robert McCulloch, oberster Strafverfolger in St. Louis.

Tatsächlich aber diskutiert Amerikas Justiz schon seit längerem über die Kosten der drakonischen Strafjustiz - nun, in Zeiten von Haushaltsnotstand und Ausgabenkürzungen, nur noch mehr. In Kalifornien wurden nicht gewalttätige Häftlinge vorzeitig nach Hause geschickt. Der Bundesstaat Michigan hat ein Gefängnis kurzerhand dichtgemacht. In Arizona überlegt man die Privatisierung der Gefängnisse.

Vor allem aber die enormen Ausgaben für die Todesstrafe sind in den vergangenen Jahren Gegenstand von Studien geworden. Alle kommen sie zu derselben Erkenntnis: Die Todesstrafe ist unverhältnismäßig teurer, als einen Mörder ein Leben lang wegzuschließen.

Schon 2003 stellte eine staatliche Untersuchungskommission im Bundesstaat Kansas fest, dass ein Todesurteil im Vergleich zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne Bewährung 70 Prozent mehr kostet. Ähnliche Resultate erbrachten Studien in Tennessee, Indiana und New Jersey. In Kalifornien fiel die Kosten-Nutzen-Analyse einer staatlichen Kommission noch drastischer aus: Der chronisch klamme Bundesstaat könnte 126 Millionen Dollar im Jahr sparen, wenn er den gerade neu gebauten Hinrichtungsblock im Gefängnis von St. Quentin dichtmachen und alle Verurteilten ihr Leben lang wegschließen würde.

Die Zahl der Todesurteile in den USA geht ohnehin zurück: Von 328 im Jahr 1994 auf 106 im vergangenen Jahr. Die Gegner von Hinrichtungen greifen das Kosten-Argument inzwischen aggressiv auf. Das Todesstrafensystem, kritisiert beispielsweise Marc Bookman vom Atlantic Center for Capital Punishment in Philadelphia, "ist eine unglaubliche Geldverschwendung". In Missouri indes haben sie sich an diese Diskussion nicht gewagt. In Todesstraffällen spuckt der Strafmaßcomputer keine Kostenanalyse aus.

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SZ vom 28.09.2010/vbe
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