Justiz:Smarter strafen

Justiz: Menschengemachte Unwucht: Einbrecher müssen im Durchschnitt in Bayern längere Haftstrafen absitzen als in Baden-Württemberg. Eine Strafrechtsprofessorin will solchen "Haustarifen" etwas maschinengenerierte Rationalität entgegensetzen.

Menschengemachte Unwucht: Einbrecher müssen im Durchschnitt in Bayern längere Haftstrafen absitzen als in Baden-Württemberg. Eine Strafrechtsprofessorin will solchen "Haustarifen" etwas maschinengenerierte Rationalität entgegensetzen.

(Foto: Carsten Rehder/DPA)

Wie hart Richter urteilen, hängt in Deutschland oft von lokalen Gepflogenheiten ab. Gerecht ist das nicht. Kann künstliche Intelligenz die Rechtsprechung fairer machen?

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Wer mit Richtern und Richterinnen über künstliche Intelligenz in der Justiz spricht, der bekommt vielleicht etwas über die Chancen, ganz sicher aber über die Grenzen ihres Einsatzes zu hören. Womöglich kann sie hier und da hilfreich sein, wird die Antwort lauten, bei der Bewältigung von Massenverfahren zum Beispiel. Für Gerechtigkeit jedoch ist der Mensch zuständig, das kann er besser.

Gerechtigkeit kann der Mensch besser - stimmt das eigentlich?

Vor vier Jahren hat das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht eine Studie veröffentlicht, die den Glauben an die menschliche Gerechtigkeit empfindlich getrübt hat. Der Autor Volker Grundies hatte darin bundesweit die Daten zur Strafzumessung verglichen, mehr als eine Million Urteile flossen ein. Untersucht wurde, wie lange man in welchen Teilen Deutschlands für eine Straftat hinter Gitter muss.

Das Ergebnis war ernüchternd, denn es zeigte: Wer beispielsweise einen Wohnungseinbruch erwägt, sollte besser Freiburg oder Waldshut-Tiengen als Tatort wählen als München oder Traunstein. In den ersten beiden Gerichtsbezirken liegen die Strafen mehr als 20 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt, in den anderen beiden um etwa denselben Prozentsatz darüber. Würde man für so einen Einbruch durchschnittlich zwei Jahre Haft veranschlagen, dann lägen zwischen dem gestrengen Südosten und dem liberalen Südwesten also elf Monate. Obwohl in Bayern und Baden-Württemberg ein und dasselbe Strafgesetzbuch gilt. Ist das gerecht?

Bei der Strafhöhe herrschen "Haustarife"

Auch der Deutsche Juristentag nahm sich des Themas an. In der damaligen Debatte erfuhr der erstaunte Laie, dass es bei Strafen sogenannte Haustarife gibt. Das Strafgesetzbuch geizt bei der Strafhöhe mit Zahlen. Es kennt nur weit gespannte Strafrahmen, die etwa beim Wohnungseinbruch zwischen sechs Monaten und zehn Jahren liegen. So haben sich an den Gerichten lokale Üblichkeiten herausgebildet, wie viele Monate oder Jahre für dieses oder jenes Delikt verhängt werden. Straftraditionen, wenn man so will, die trotzig ihre Eigenheit bewahren, kaum anders als Lederhosen.

Weil nun diese menschengemachte Gerechtigkeit eine gewisse Unwucht aufweist, fasste Frauke Rostalski den Plan, ihr ein wenig maschinengenerierte Rationalität einzuhauchen. Die Strafrechtsprofessorin an der Uni Köln entwarf zusammen mit dem Fraunhofer Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme das Projekt "Smart Sentencing". Mit künstlicher Intelligenz (KI) soll eine Datenbasis aus möglichst vielen Urteilen so aufbereitet werden, dass nachvollziehbar und transparent wird, welche Strafen die Gerichte in bestimmten Fallkonstellationen verhängen.

Ist das schon der Robo-Richter, der automatisiert regelrechte Urteile vorschlägt? Rostalski hält nichts von dem Vergleich, sie sieht "Smart Sentencing" eher als eine Art Statistik. Das Gericht klickt verschiedene Begriffe an, die den Fall charakterisieren, und der Computer liefert ein paar grafische Balken, die anzeigen, wie die Strafhöhen in einer solchen Konstellation verteilt sind. Hoher Balken fünfzehn Monate, niedriger Balken zwölf Monate, und so weiter. Durchschnittswerte sollen bewusst nicht angezeigt werden, weil eine einzelne Zahl eine hohe Suggestionskraft haben kann, zumal, wenn sie von einem Großrechner mit überlegenem Wissen präsentiert wird. Und die konkreten Wertungen des Einzelfalls müsse ohnehin der Mensch selbst vornehmen, schon deshalb, weil die KI nur die häufig vorkommenden Parameter abdecke und nie alle Umstände des individuellen Falls.

Wer solche Orientierungshilfen gleichwohl fragwürdig findet, weil so eine Vorgabe den unabhängigen Richter irgendwie einengt, der müsse sich aus Rostalskis Sicht eher an der jetzigen Praxis reiben - am Haustarif. Denn auch der formuliert eine pauschale Vorgabe, nur eben auf schlechterer Datenbasis; verglichen damit produziere "Smart Sentencing" einen Bundestarif.

Das Projekt hat es bis in die Probephase geschafft. "Das funktioniert bisher super", sagt Rostalski. Studierende haben etwa 200 Urteile bearbeitet und alles markiert, was mit Strafzumessung zu tun hat. Zum Beispiel die Höhe des Schadens, den der Einbrecher angerichtet hat, oder seine Vorstrafen - das kann sich "strafschärfend" auswirken. Oder die "mildernden" Umstände wie das Geständnis und die Wiedergutmachung. Die KI erkenne das und könne die Markierung hoffentlich irgendwann selbst übernehmen, wenn sie an ausreichend vielen Urteilen trainiert sei. Sie könne einen Beitrag leisten, das Strafgefälle auszugleichen, zwischen Traunstein und Waldshut-Tiengen zum Beispiel.

Aus der Politik erhält das Projekt bisher wenig Rückenwind

Ist "Smart Sentencing" also ein förderungswürdiger KI-Beitrag zu mehr Gerechtigkeit? Derzeit stockt das Projekt, aus der Politik kommt nach Angaben von Rostalski bisher wenig Rückenwind. Das Justizministerium in NRW teilt auf SZ-Anfrage mit, eine Unterstützung "hätte einen enormen Aufwand für den hiesigen Geschäftsbereich zur Folge gehabt, den die ohnehin schon stark belasteten Staatsanwaltschaften, die mit der Kernaufgabe der Strafverfolgung schon im Grenzbereich arbeiten, nicht hätten leisten können".

Dabei wäre "Smart Sentencing" auf Unterstützung durch Politik und Justiz angewiesen, weil die KI dringend Trainingsdaten benötigt, um für die Praxis nutzbar zu sein. Also Urteile, Urteile, Urteile, quer durch alle Instanzen, nicht nur vom Bundesgerichtshof und von den Oberlandesgerichten. Doch auch hier wird der deutsche Digitalisierungsrückstand schmerzhaft spürbar: "In der Juristerei in Deutschland befinden wir uns in einer Art Datenwüste", fasste kürzlich der Rechtsanwalt und Legal-Tech-Unternehmer Tianyu Yuan bei einer Diskussion am Oberlandesgericht Celle zusammen; ein Video davon ist im Netz auffindbar. Nur etwa ein Prozent der Zivil- und Strafurteile, die im Namen des Volkes gesprochen wurden, sind dem Volk auch öffentlich zugänglich; auf der Ebene der Amtsgerichte sind es 0,1 Prozent.

Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht schon 1997 entschieden: "Die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen ist eine öffentliche Aufgabe." Und zwar eine Aufgabe, die jedes Gericht treffe. "Zu veröffentlichen sind alle Entscheidungen, an deren Veröffentlichung die Öffentlichkeit ein Interesse hat oder haben kann." In der Praxis haben die Gerichte freilich weniger die Öffentlichkeit im Blick als vielmehr die eigene Kollegenschaft: Veröffentlicht wird, was der Rechtsfortbildung dient.

Vor der Veröffentlichung müssten Urteile anonymisiert werden

Das soll künftig anders werden. Im Koalitionsvertrag der Ampel steht der zukunftsverheißende Satz: "Gerichtsentscheidungen sollen grundsätzlich in anonymisierter Form in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar verfügbar sein." Das Bundesjustizministerium hat inzwischen mit der Entwicklung eines Rechtsinformationsportals begonnen - für ein deutlich erweitertes Open-Data-Angebot. Es sei "beabsichtigt", das Portal in dieser Legislaturperiode zu realisieren.

Größtes Hindernis einer Veröffentlichung von Urteilen auf breiter Basis ist derzeit aber die Anonymisierung. Urteile können sehr private Dinge enthalten, deshalb muss geschwärzt sein, was die Identität der Beteiligten enthüllen könnte - vor allem Namen und Orte. Das macht Arbeit und bindet Kapazitäten, die die Justiz oft nicht hat. So hängt die Verbreitung der Urteile oft vom Ehrgeiz der jeweiligen Gerichte ab. Zuletzt habe beispielsweise das OLG Brandenburg seinen Output enorm gesteigert, berichtete in der Celler Veranstaltung Bärbel Smakman von Beck-Verlag. "Wenn man OLG und Familienrecht googelt, meint man, da sei nur das OLG Brandenburg unterwegs."

Aber auch hier ruht die Hoffnung auf dem technologischen Fortschritt. Mit der Entwicklung einer zuverlässigen Anonymisierungssoftware ließe sich der Datenschatz der Justiz heben. Und die Rechtsprechung in Waldshut-Tiengen oder Traunstein ein wenig gerechter machen.

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