Süddeutsche Zeitung

Regeln zum "Deal":Viele Richter kungeln am Strafrecht vorbei

Einer Umfrage zufolge glaubt die Mehrheit der befragten Richter, dass sie bei jedem zweiten Deal gegen die Strafprozessordnung verstößt. Mit der "Erforschung der Wahrheit" nehmen sie es dabei offensichtlich nicht so genau: Mehr als die Hälfte der befragten Rechtsanwälte berichtet von wahrscheinlichen Falschgeständnissen ihrer Mandanten, um bei einem Deal mit einer niedrigeren Strafe davonzukommen.

Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Bei Absprachen im Strafprozess halten sich Deutschlands Richter überwiegend nicht ans Gesetz. Die seit August 2009 geltenden Regeln, die für mehr Transparenz bei der umstrittenen Verständigungspraxis sorgen sollten, werden häufig umgangen. Mehr als die Hälfte der Richter greift stattdessen bevorzugt zum informellen "Deal". Bemerkenswert ist die Selbsteinschätzung der Amtsrichter: Fast zwei Drittel glauben, in jeder zweiten Absprache werde gegen den neuen Paragrafen 257c der Strafprozessordnung verstoßen. Beispielsweise wird auch der Führerscheinentzug "weggedealt" - obwohl dies vom Gesetz ausdrücklich ausgeschlossen ist.

Das hat eine im August vorgenommene Umfrage unter gut 330 Richtern, Staatsanwälten und Strafverteidigern aus Nordrhein-Westfalen erbracht, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Die Studie des Düsseldorfer Professors Karsten Altenhain wurde für die Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zum Deal am nächsten Mittwoch gefertigt.

Aus den Angaben der Juristen wird deutlich, dass die "Erforschung der Wahrheit" - zu der das Gericht auch bei Absprachen verpflichtet ist - in der Praxis häufig unterbleibt. Zwar wird in diesen Fällen fast immer ein Geständnis abgelegt. Typischerweise wird dies aber vom Verteidiger in knapper, formalisierter Form vorgetragen. 28 Prozent der Richter räumen ein, dass sie allenfalls teilweise Geständnisse überprüfen; aus Sicht der Verteidiger und Staatsanwälte sind die Richter hier sogar noch deutlich nachlässiger. Zudem beschränkt sich die Kontrolle häufig auf einen Abgleich mit den Akten, was "beweisrechtlich problematisch" ist, wie Altenhain schreibt. Alarmierend: Mehr als die Hälfte der Rechtsanwälte berichtet von wahrscheinlichen Falschgeständnissen ihrer Mandanten, die damit einer angedrohten höheren Strafe entkommen wollten.

Unfaire Drucksituation

Allerdings regt sich hier bei vielen Richtern das Gewissen: Zwei Drittel geben an, dem Angeklagten grundsätzlich nicht mit einer "Sanktionsschere" zu drohen - also mit der Kluft zwischen milder und hoher Strafe, je nachdem, ob er geständig ist oder nicht. Ein Teil der Richter hält das für eine unfaire Drucksituation. Allerdings wollen der Studie zufolge vor allem die Verteidiger genau wissen, wie viel ein Geständnis bringt. Der typische Strafrabatt für ein Geständnis liegt bei etwa einem Viertel bis einem Drittel. Sehr häufig stellen die Richter zudem eine Bewährungsstrafe in Aussicht. Die Wirkung dieser Methode ist exorbitant: Angeklagte legen dann häufig ein Geständnis ab.

Wichtigstes Motiv für eine Absprache ist der Opferschutz, gefolgt von der Vermeidung langer Prozesse und Arbeitsüberlastung. Besonders häufig wird bei Drogen- und Wirtschaftsdelikten gedealt, selten dagegen bei schweren Verbrechen. Wenig Sinn haben die Richter für Formvorschriften: Das Verbot, einen Verzicht auf Rechtsmittel zu akzeptieren, wird offensiv umgangen. Fazit der Richter: Die Hälfte hält den Deal für unverzichtbar - aber zwei Drittel bezeichnen das neue Recht als untauglich.

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Quelle:
SZ vom 02.11.2012/jasch
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