Stillstand im Bundestag:Abgeordnete im Wartestand

Stillstand im Bundestag: Alles schläft, keiner wacht - derzeit ist es still im Bundestag.

Alles schläft, keiner wacht - derzeit ist es still im Bundestag.

(Foto: AFP)

Der Außenpolitiker darf keine Außenpolitik machen, ein Kollege bekommt ein Amt bei der Wasserwacht - wie vier Abgeordnete die Zeit herumbringen, bis es im Bundestag irgendwann losgeht.

Von Ulrike Heidenreich, Berlin

So richtig angekommen ist Sabine Poschmann nicht. Auf ihrer Webseite wirbt sie immer noch mit ihrer Kandidatur für den Bundestag - so, als ob sie nicht längst mit 46,7 Prozent der Stimmen im Wahlkreis Dortmund I nach Berlin entsandt worden wäre. Um sich dort dem zu widmen, was ihr am wichtigsten ist: "Mit Dingen beschäftigen, die uns alle bewegen."

Dass die Abgeordnete mit ihrer Webseite nicht auf der Höhe der Zeit ist, dafür gibt es durchaus einen plausiblen Grund. Denn die Sozialdemokratin Poschmann, 45, kann zurzeit nichts bewegen, nullkommanichts. Warum sollte sie ihr Profil aktualisieren, wenn doch nur Stillstand herrscht? Zweieinhalb Monate nach der Wahl ist der Bundestag immer noch nicht arbeitsfähig. Kein Fachausschuss. Drei Plenarsitzungen bloß. Insgesamt befinden sich 631 Abgeordnete in Warteposition - voller Tatendrang bei voller Bezahlung.

Die meisten Abgeordneten haben ihre Büros bereits bezogen und eingerichtet. 54 Quadratmeter stehen jeweils ihnen und ihren Mitarbeitern zu. Auch ihre eigene Kurzbiografie für "Kürschners Volkshandbuch" haben sie schon verfasst. Im "Kürschner", dem Nachschlagewerk des Bundestags, stehen jetzt neue Abgeordnete wie Sabine Poschmann, Charles M. Huber (CDU), Alexander Radwan (CSU) oder Stefan Liebich von der Linken, welcher schon zum zweiten Mal im Parlament sitzt. Unter anderem diese vier hatte die Süddeutsche Zeitung ein Jahr lang in der Wahlkampfserie "Weg nach Berlin" begleitet. Nun sind die Politiker zwar dort angekommen - aber eben nur so halb. Erst wenn die SPD-Basis am 14. Dezember über das schwarz-rote Bündnis entschieden hat, könnte sich das ändern.

Was soll man davon halten? Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) etwa hält es "weder für plausibel noch für notwendig", die Ausschüsse erst nach der Regierungsbildung einzurichten. Er hatte gefordert, vier im Grundgesetz vorgeschriebene Ausschüsse unbedingt schon jetzt einzusetzen, für die EU-Angelegenheiten, für Auswärtiges, Verteidigung und für Petitionen.

Dietmar Bartsch, Fraktionsvize der Linken, empörte sich richtig: "Wir alle werden hier nicht fürs Rumsitzen bezahlt." Die Einsetzung eines Hauptausschusses mit 47 Mitgliedern ist ihm nicht genug. Und auch die Grünen wollen sich nicht länger hinhalten lassen, bis "die große Koalition mit ihren Ressortzuschnitten zu Potte kommt", wie ihre Parlamentarische Geschäftsführerin Britta Haßelmann sagt.

Stefan Liebich sieht sich in seiner Arbeit gehindert

Wenn Fernsehkameras bei Debatten über leere blaue Stuhlreihen im Plenum schwenken und es dann immer heißt, die Abgeordneten seien faul, weil abwesend, weisen Politiker gerne darauf hin, dass ihre Hauptarbeit schließlich in den Fachausschüssen des Bundestages geschieht. Zahlen belegen das: So fanden in der vergangenen Legislaturperiode 233 Plenarsitzungen statt - und 2728 Ausschusssitzungen. Dies einzuholen, dürfte jetzt schwierig werden. Sollte bei Union und SPD alles glattgehen, wären die 22 Ausschüsse sowieso erst im Januar arbeitsfähig.

"Ziemlich sauer" ist Stefan Liebich, Abgeordneter aus Berlin und Außenexperte der Linken. Er sieht sich richtiggehend an der Arbeit gehindert. Und mit bürokratischen Nervereien muss er sich auch noch herumschlagen. Als in Washington ein Treffen mit amerikanischen Kongressabgeordneten wegen des NSA-Skandals anstand, durfte Liebich, 40, nicht reisen. Weil es zurzeit nun mal keinen Auswärtigen Ausschuss gibt, wurden die Kosten vom Bundestag nicht übernommen.

Normalerweise läuft das so: Der oder die Vorsitzende des Gremiums prüft, ob eine Auslandsreise sinnvoll wäre; anschließend genehmigt der Bundestagspräsident sie. Doch wo kein Ausschuss, dort auch keine Spesen. Liebich darf seine Außenpolitik vorerst in seinem Wahlkreis Pankow machen.

Viel Zeit zum Einräumen

Ebenso lief es im Fall des Deutsch-Japanischen Forums, das Ende Oktober in Tokio tagte. Wissenschaftler, Ökonomen und Diplomaten saßen dort im Gästehaus des Außenministeriums beisammen - nur die deutschen Abgeordneten fehlten. Bundestagspräsident Lammert konnte keine Reisekosten genehmigen, Begründung siehe oben. "Viele internationale Konferenzen finden gerade ohne einen einzigen deutschen Abgeordneten statt. Das ist eine unerträgliche Blockade", sagt Liebich.

Alexander Radwan, 49, hingegen ist nicht künftige Opposition, als CSU-Politiker gehört er einer Regierungsfraktion an. Er schimpft natürlich nicht, er gibt den Gelassenen. Der Mann vom Tegernsee hat in den vergangenen elf Wochen ausgiebig Zeit verwendet, sein Abgeordneten-Büro in Berlin einzurichten; dabei hatte er es von Ilse Aigner übernommen. "Es sieht ordentlich aus, wir sitzen nicht mehr zwischen Kisten", sagt Radwan.

In Berlin ist er immer mal ein paar Tage, wenn Fraktionssitzungen anstehen. Eine Wohnung hat er dort noch nicht. Ansonsten: Er liest sich daheim in Bayern ein, führt sich alte Vorlagen zu Gemüte: "über den Arbeitsstand der Ausschüsse informieren", nennt er das. Er empfing Besuchergruppen aus dem Wahlkreis, zehnte Klassen der Realschule aus Bad Tölz. Er ließ sich von der Wasserwacht des DRK zum Bundesleiter wählen; Radwan ist nun Chef von 51 000 aktiven Rettungsschwimmern.

Sitzung verpassen - unmöglich

Andere Parlamentsneulinge kämpfen sich durch den 233 Seiten dicken "Wegweiser für Abgeordnete". Sie müssen herausbekommen, wo sie ihren Parlamentsausweis, ihre Bahncard 100 erster Klasse sowie Anträge für Dienstflüge erhalten und wie die Fahrbereitschaft des Bundestags bestellt werden kann.

Einen Vorteil hat die stade Zeit in Berlin übrigens für die Politiker, und zwar einen finanziellen. An Sitzungstagen besteht für sie Präsenzpflicht. Wer unentschuldigt fehlt, dem werden 100 Euro abgezogen. Wer sich entschuldigt, zum Beispiel wegen Krankheit, büßt immerhin noch 50 Euro ein. Ebenfalls 50 Euro werden Abgeordneten abgezogen, die bei namentlichen Abstimmungen fehlen.

Aber in diesen Wochen hat ja niemand auch nur die Möglichkeit, eine Sitzung zu verpassen. Also gehen die Überweisungen der Bundestagverwaltung ohne Abzug hinaus. Die sogenannte Abgeordneten-Entschädigung beträgt 8252 Euro im Monat. Dazu kommen 4029 Euro als steuerfreie Kostenpauschale. Davon zahlen die Abgeordneten Ausgaben für ihr Wahlkreisbüro oder die Zweitwohnung in Berlin. Bis zu 16 019 Euro pro Monat dürfen sie für die Bezahlung von Mitarbeiter verwenden, dieses Geld zahlt die Bundestagsverwaltung direkt an diese aus.

Charles M. Huber ist gut unterwegs

Charles M. Huber, 57, hatte für die CDU in Darmstadt kandidiert. Den Wahlkreis gewann er zwar nicht, aber er zog über die Liste in den Bundestag ein. Er hat seine Mitarbeiter "ganz, ganz schnell" gefunden und eingestellt. Einer von ihnen war vorher bei der FDP und ist nun froh, dass der Neue von der CDU ihm die Arbeitslosigkeit erspart hat. Huber lebt übergangsweise in der Wohnung einer Bekannten in Berlin, von Januar an hat er eine eigene Wohnung. Zu 80 Prozent halte er sich inzwischen in der Hauptstadt auf, trotz reduziertem Politbetrieb: "Ich kann mich nicht beschweren, dass ich wenig Arbeit hätte. Die Leute vom Fahrdienst sagen schon zu mir: Sie sind aber gut unterwegs!"

Huber, der ehemalige Kommissar in der ZDF-Serie "Der Alte", saust zu Veranstaltungen des Auswärtigen Amtes, von Botschaften oder des Schaustellerverbandes. "Es ist anders, wenn man mit jemanden spricht, als wenn man nur über ihn liest." Seinen 57. Geburtstag am vergangenen Dienstag hat er in Brüssel verbracht und sich zum Beispiel eine Rede des EU-Kommissars Günther Oettinger zur Energiepolitik angehört ("hochinteressant"). Die Reisekosten musste sich Huber übrigens nicht genehmigen lassen. Die CDU-Landesgruppe Hessen hatte die Fahrt organisiert und bezahlte sie.

"Endlich wieder echte Arbeit!"

Sabine Poschmann, die neue SPD-Abgeordnete aus Dortmund, bringt die Zeit herum, indem sie mehr Termine im Wahlkreis macht als eigentlich geplant und möglich. SPD-Mitglieder pflegen, das ist in diesen Tagen sowieso die vornehmste Pflicht von SPD-Abgeordneten. Sie sagt: "Da herrscht sehr viel Informationsbedarf."

Dass nun so viel Zeit vergeht, bis der Mitgliederentscheid ihrer Partei erledigt ist, stört sie nicht, sagt sie. Im Gegenteil: "Jetzt geht es um Inhalte, kritische Meinungen werden nicht an den Rand gedrängt." Eine Wohnung in Mitte hat sie bereits gefunden. Bei der konstituierenden Sitzung des Bundestags schaute ihr Sohn, sieben Jahre alt, von der Tribüne herunter und war begeistert: "Er fand den Bundestag noch besser als Legoland", sagt Sabine Poschmann.

Auf der Webseite für ihre Bundestagskandidatur hatte sie übrigens groß ihre Themenschwerpunkte herausgestellt. Renten, Europa, Energiewende, Mindestlohn. Ihr Slogan zu Letzterem heißt dort: "Endlich wieder echte Arbeit!"

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