Süddeutsche Zeitung

Stilles Abkommen:Schweigen wir über TTIP

Seit einer Woche dürfen Abgeordnete Unterlagen zum Handelsabkommen mit den USA einsehen. Wer sich die Dokumente anschaut, begibt sich in ein Dilemma: Denn über das Gesehene reden darf man nicht.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Eine Viertel Million Aufrufe für ein Video auf Facebook, das ist selbst für einen Anton Hofreiter ein guter Schnitt. Vorige Woche hat der Grünen-Fraktionschef das Video ins Netz gestellt, darin erzählen er und seine Fraktionskollegin Katharina Dröge von ihrem Besuch im TTIP-Leseraum im Wirtschaftsministerium. Abgeordnete können sich dort über den Stand der Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsabkommen schlau machen. "Leider verbietet mir die Bundesregierung euch zu sagen, was ich gelesen habe", textete Hofreiter zu dem Video. "Ich kann nur sagen, dass meine Skepsis noch größer geworden ist."

Seither hagelt es Hohn und Kritik. Hunderte Kommentare gibt es mittlerweile zu dem Video, die meisten geißeln die Geheimhaltung. "Zeigen Sie Zivilcourage und reden Sie!", schreibt einer, und der ist noch von der freundlichen Sorte. "Wieso lasst ihr euch das gefallen?", will ein anderer wissen. Der schüchterne Verweis der Grünen auf Paragraf 353 des Strafgesetzbuches kann die wenigsten beruhigen: Seit wann muss ein Parlamentarier drei Jahre Haft fürchten, wenn er die Wahrheit sagt? Plötzlich sitzt in der Falle, wer sich die Dokumente angeschaut hat.

Dabei hatten die Abgeordneten so lange für mehr Transparenz rund um TTIP gekämpft. Nicht länger wollten sie nur jene Dokumente lesen, die ihnen die EU gnädigerweise überlässt, sondern auch echte Verhandlungsunterlagen, inklusive der Positionen Washingtons und Brüssels. Das, immerhin, hat der Bundestag erreicht: Jeweils acht Abgeordnete dürfen nun gleichzeitig in Raum B 0.010 des Ministeriums, wo sie an Computern für zwei Stunden Kapitel studieren dürfen. Handys müssen sie in einem Spind wegsperren, Stifte und Papier stellt das Ministerium. Vor allem aber muss jeder Abgeordnete den Regeln zustimmen: "Mit Ihrer Unterschrift im Logbuch verpflichten Sie sich (. . .) zum Schutz dieser Schriftstücke und der darin enthaltenen Informationen." Andernfalls drohten "disziplinarische und/oder rechtliche Maßnahmen".

Das Ergebnis ist paradox: Denn wer im Lesesaal war, darf nicht mal mehr über Dinge reden, die er dort zwar bestätigt fand, aber vorher schon wusste. "Insgesamt wird die Arbeit noch intransparenter", sagt die Grünen-Wirtschaftsexpertin Katharina Dröge. "Ich muss immer den Vorwurf des Geheimnisverrats fürchten. Da entsteht auch so etwas wie eine Schere im Kopf." Wer aber mit Verweis auf die Geheimhaltung nicht mehr sein Wissen über TTIP teilt, wird ungewollt zum Teil jenes obskuren Apparats, den die Abgeordneten doch eigentlich öffnen wollten - verpflichtet per Unterschrift. Und weil die Parlamentarier nicht einmal wissenschaftlich versierte Mitarbeiter einweihen dürfen, bleibt ihnen manches Detail in den Dokumenten verborgen. "Ohne Mitarbeiter schafft man das nicht", sagt der Linken-Parlamentarier Klaus Ernst, ebenfalls Besucher des Lesesaals.

Als der Grüne Hofreiter nach der TTIP-Lektüre von seiner gewachsenen Skepsis berichtete, verlangte das Wirtschaftsministerium übrigens prompt via Twitter einen konkreten Beleg. Die Grünen antworteten lieber nicht. Sie befürchteten eine Fangfrage.

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Quelle:
SZ vom 10.02.2016
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