Stichwort "Neoliberalismus":Das Totschlagargument

Der Begriff "Neoliberalismus" hat sich vom Wirtschaftsfachwort zum Kampfbegriff im Politikbetrieb gemausert. Das Problem: Jeder versteht darunter etwas anderes - und verrät dabei zugleich viel über sein Weltbild. Ein Überblick von Christoph Schäfer

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Ulrich Maurer

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Mit seinem Neoliberalismus-Vorwurf an die Unionsparteien hat SPD-Chef Kurt Beck für einigen Wirbel in der Großen Koalition gesorgt. Schnell aber zeigte sich: Unter dem Begriff "Neoliberalismus" versteht jeder etwas anderes.

Sueddeutsche.de hat alle im Bundestag vertretenen Parteien, Gewerkschaften und Arbeitsgeberverbände, eine prominenete deutsche Bank und einen führenden Wirtschaftsforscher befragt, was sie eigentlich meinen, wenn sie von "Neoliberalismus" sprechen.

Angesprochen auf seine Definition des Begriffs kann sich Ulrich Maurer, Parlamentarischer Geschäftsführer der Linkspartei, auch einen Seitenhieb auf die SPD nicht verkneifen:

"Neoliberalismus ist die globale Macht der Finanzmärkte über die Menschen und die Politik und die Verherrlichung dieses Vorgangs durch führende Politiker. Dass der Kollege Kurt Beck nun den Begriff des Neoliberalismus als Vorwurf gebraucht, zeigt, dass er in die geistig-moralische Opposition zu sich selbst gegangen ist."

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Dirk Niebel

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FDP-Generalsekretär Dirk Niebel nutzt die Gelegenheit für einen grundsätzlichen Aufklärungsversuch:

"Wer von Neoliberalismus redet, hat den Liberalismus nicht verstanden. Der Liberalismus steht nicht nur für die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern auch für Chancengleichheit in der Gesellschaft. Es gibt keine Werteordnung, die so sehr die Freiheit und den Wohlstand aller und eben nicht bloß weniger zum Maßstab macht wie der Liberalismus.

Während alle anderen Parteien bloß ans Verteilen denken, kümmern Liberale sich deswegen ums Erwirtschaften, weil alles, was an Bedürftige ausgeteilt werden soll, zunächst einmal erarbeitet werden muss."

Im Bild zu sehen: Parteichef Guido Westerwelle (l.) applaudiert Niebel während des FDP-Parteitages im Mai 2005 in Köln.

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Thea Dückert

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Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Thea Dückert, warnt vor den Gefahren des Neoliberalismus:

"Neoliberal ist ein Markt ohne Ordnungsrahmen, der dem Recht des Stärkeren folgt. Sich selbst überlassen ist der Markt blind gegenüber ökologischen und sozialen Herausforderungen. Deshalb wollen wir einen starken Staat, der dem Markt einen verlässlichen Rahmen setzt. Mit uns ist der neoliberale Nachtwächterstaat nicht zu machen.

Marktwirtschaft steht nicht im Gegensatz zu Ordnungspolitik. Vielmehr ist Regulierung auch Voraussetzung für Wettbewerb und fairen Marktzugang. Anders als für die Neoliberalen ist für uns der Markt kein Fetisch, sondern ein Mittel zur Erreichung von Zielen. Märkte können effiziente Suchverfahren für gute Lösungen sein. Ein ökologisch und sozial geprägter Ordoliberalismus ist Bestandteil einer ökologisch und sozial verantwortlichen Marktwirtschaft."

Im Bild zu sehen: Grünen-Politiker Jürgen Trittin (r.) und Dückert.

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SPD

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Nach den eindeutigen Worten ihres Vorsitzenden Beck wählen die Sozialdemokraten nun eine wolkigere Wortwahl. Befragt nach ihrer Definition von Neoliberalismus ließen sie wissen:

"Freiheit ist ein Wort der Zuversicht. Nicht Angst oder Resignation, sondern die Hoffnung auf ein besseres Leben soll die Gesellschaft prägen. Dazu gehören gleiche Chancen, sozialer Aufstieg, Leistung und Teilhabe, faire Spielregeln und Sicherheit vor existenziellen Gefahren. Das zu ermöglichen, ist Aufgabe der Politik. Wer Freiheit radikal auf den Markt reduziert, will einen halbierten Liberalismus. 'Neoliberal' ist heute vor allem eine negative Haltung. Sie stellt sich gegen den Sozialstaat."

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Erstaunlich, erstaunlich: Obwohl SPD-Chef Beck mit seinem Neoliberalismus-Vorwurf direkt die CDU angegriffen hat, will diese trotz vierfacher Anfrage nichts mehr zum Thema Neoliberalismus sagen. Ein Grund hierfür nannten die Christdemokraten nicht.

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CSU

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Keine Antwort ist auch eine Antwort: Wie schon ihre große Schwesterpartei verrät auch die Berliner Landesgruppe der CSU nichts über ihre Vorstellung von Neoliberalismus.

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Michael Schlecht

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Zu so einem Thema ist auf Aussagen der Arbeitnehmervertreter natürlich Verlass. Auch an Deutlichkeit lässt Michael Schlecht, Chefvolkswirt beim Verdi-Bundesvorstand, nichts zu wünschen übrig:

"Beim Neoliberalismus geht es um die Vorstellung, man müsse die Abgabenlast der Unternehmen senken; man müsse die Löhne senken, in der Hoffnung, dass dann die Gewinne steigen und daraufhin wiederum die Investitionen steigen. Das ist die Grundlinie.

Die Idee ist aber ein grundlegender Irrtum, obwohl viele Jahre lang Sozialabbau betrieben worden ist, hat es nicht funktioniert.

Man könnte auch sagen, Neoliberalismus ist die Politik, die die SPD spätestens seit 2001 macht, und die Große Koalition heute fortführt. Wenn SPD-Chef Beck nun Kritik am Neoliberalismus äußert, kann man nur sagen, er kritisiert sich selbst. Seine Äußerungen sind eine ziemliche Verlogenheit."

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BDA

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Ein weiterer Schweiger: Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände will nicht verraten, was sie sich unter Neoliberalismus vorstellt.

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Für den Arbeitgeberverband Gesamtmetall erklärt Hauptgeschäftsführerin Heike Maria Kunstmann:

"Neoliberal heißt für mich: Freiheit und Eigenverantwortung der Bürger, Vertrauen in die Kräfte des Marktes und eine klare staatliche Rahmensetzung, die den fairen und offenen Leistungswettbewerb zur Entfaltung kommen lässt. Umso bedauerlicher ist, dass der Begriff vielfach als Schimpfwort verwendet wird."

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Der Präsident des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn (l.), zum gleichen Thema:

"Viele, die den Vorwurf des Neoliberalismus machen, wissen offenbar gar nicht, was das ist. Billig ist es, wenn sie den Vorwurf gegenüber jenen verwenden, die einen aktivierenden Sozialstaat wollen und Mindesteinkommen mit flexiblen Löhnen anstatt Mindestlöhne fordern. Der Vorwurf erspart ihnen die Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Vorschlägen für eine bessere Sozialpolitik, die den Zielen der Solidarität und Gerechtigkeit näher kommt als die eigenen Vorschläge."

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Eine klassische ökonomische Sichtweise nimmt Norbert Walter ein, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank:

"Neoliberalismus ist ein Ordnungsentwurf, der Marktwirtschaft fordert, um die Freiheit des Einzelnen und materiellen Wohlstand zu fördern. Neoliberalismus fordert vom Staat die Etablierung von Institutionen, welche Eigentum sichern, Marktzu- und -abgang regeln, eine preisstabile Währung garantieren und jenen, die keine Marktleistung erbringen können, das Existenzminimum gewährleisten.

Globalisierung verläuft nicht nach neoliberalem Muster. Märkte sind nicht offen, Wettbewerb ist nicht etabliert. Anreizstrukturen sind verzerrt. Es ist daher falsch, Neoliberalismus für die derzeitigen ökonomischen und sozialen Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen."

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