Steuerschätzung:Steuereinnahmen steigen deutlich - aber der schöne Schein trügt

Steuerschätzung: Sieht keine Spielräume: Lindner am Donnerstag in Bonn.

Sieht keine Spielräume: Lindner am Donnerstag in Bonn.

(Foto: Benjamin Westhoff/Reuters)

Bund, Länder und Gemeinden können sich auf Mehrerlöse in dreistelliger Milliardenhöhe freuen. Finanzminister Lindner ist trotzdem nicht zum Feiern zumute.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Manche Nachrichten sind einfach zu schön, um wahr zu sein, und mit genau einer solchen hatte es Christian Lindner am Donnerstag zu tun. Trotz Abschwung, Energiekrise und steigender Leitzinsen, so teilte der Bundesfinanzminister mit, könnten Bund, Länder und Gemeinden bis zum Jahr 2026 mit Steuermehreinnahmen von insgesamt gut 126 Milliarden Euro rechnen. Das jedenfalls habe der Arbeitskreis Steuerschätzungen bei seiner jüngsten Sitzung errechnet. Von überschwänglicher Freude war bei Lindner dennoch nichts zu spüren, denn er weiß: Die Mehrerlöse werden fast vollständig für die Entlastung der krisengebeutelten Bürger und Betriebe sowie eine Reihe weiterer, längst geplanter Projekte draufgehen. "Spielräume für weitere Vorhaben bestehen deshalb nicht", sagte der Minister mit Blick auf entsprechende Wünsche aus den Reihen der Koalition.

Behalten die Steuerschätzer recht, dann muss der Bund dieses Jahr im Vergleich zur letzten Prognose vom Mai sogar mit Einnahmeausfällen von 7,2 Milliarden Euro rechnen. Grund sind die Kosten der Entlastungspakete, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und dem Beginn der Energiekrise geschnürt wurden.

Von 2023 an werden dann für alle Gebietskörperschaften zusammengenommen Mehrerlöse vorausgesagt, die Jahr für Jahr weiter steigen und allein 2026 fast 47 Milliarden Euro erreichen könnten. 2025 werden die jährlichen Steuererlöse des Staats aus heutiger Sicht zudem erstmals die Schwelle von einer Billion Euro überschreiten.

Dass es mitten im Konjunkturabschwung überhaupt zu Steuermehreinnahmen kommen wird, ist vor allem der hohen Inflationsrate und dem robusten Arbeitsmarkt geschuldet. Steigende Preise und Löhne nämlich bedeuten, dass auch die mit ihnen verknüpften Steuerarten kräftig profitieren. Das gilt insbesondere für die Umsatz- und die Einkommensteuer, die kombiniert rund 70 Prozent der Gesamtsteuererlöse ausmachen. Kauft man beispielsweise ein Auto, dessen Bruttopreis vom Hersteller von 30 000 auf 35 000 Euro angehoben wurde, ist der Staat mit 5590 Euro am Verkaufserlös beteiligt - 800 Euro mehr als zuvor. Auch die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer, die viele große Konzerne zahlen, sprudeln weiter. Vor allem der Bund und die Länder, aber auch die Städte und Gemeinden sind in Zeiten hoher Teuerungsraten deshalb so etwas wie Krisengewinnler.

Lindner bekräftigte jedoch, dass er die außerplanmäßigen Mehrerlöse bei der Einkommensteuer vollständig an die Bürger zurückgeben wolle. Nach seinen Berechnungen summiert sich der Effekt der sogenannten kalten Progression allein 2022 und 2023 auf fast 45 Milliarden Euro. Pro Steuerzahler sind das im Schnitt 1265 Euro. Hinter dem Begriff der kalten Progression verbirgt sich der Umstand, dass Bürgerinnen und Bürger nach einer Gehaltserhöhung mehr Steuern zahlen müssen, obwohl ihre Kaufkraft wegen der Inflation gar nicht gestiegen oder gar gesunken ist.

Um die Steuerpflichtigen gemäß ihren individuellen Zusatzkosten zu entlasten, will Lindner den Grundfreibetrag und alle weiteren Eckwerte des Einkommensteuertarifs deutlich verschieben. Die einzelnen, mit wachsendem Einkommen sukzessive steigenden Steuersätze würden dann künftig jeweils ab einem höheren Betrag greifen als bisher. Allein dieses Vorhaben wird Bund und Länder 2023 einen zweistelligen Milliardenbetrag kosten und einen Teil der inflationsbedingten Mehrerlöse auffressen. Auch die Mehrwertsteuersenkung für Gas- und Fernwärmekunden sowie das Jahressteuergesetz schlagen als deutliche Mindereinnahmen zu Buche.

Die EZB erhöht den Leitzins - und beschert Lindner damit hohe Mehrkosten

Lindner betonte, dass man sich von den erfreulichen Zahlen der Steuerschätzung nicht täuschen lassen dürfe. Zum einen seien die Vorhersagen mit großen Unsicherheiten behaftet, weil niemand wisse, wie sich die Wirtschaft angesichts der vielen Konjunkturrisiken weiter entwickeln werde. Zudem spüle die Inflation dem Staat zwar Mehreinnahmen in die Kasse, sie treibe aber auch die Ausgaben.

Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Europäische Zentralbank (EZB), die ihren wichtigsten Leitzins am Donnerstag zum zweiten Mal in Folge um 0,75 Punkte auf jetzt zwei Prozent angehoben hatte. So hoch lag der Satz seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr. Lindner sagte, er halte die Entscheidung der Notenbank für richtig. Sie bedeute aber auch, dass der Bund mit den im Haushaltsentwurf für 2023 bisher angepeilten Zinsausgaben von 30 Milliarden Euro nicht auskommen werde.

Ziel der EZB ist es, die Kreditnachfrage und den Konsum zu dämpfen und die auf fast zehn Prozent ausgeuferte Inflationsrate im Euro-Raum wieder zurückzuführen. Die Zinsen für ein zehnjähriges Baudarlehen etwa sind im Gefolge der weltweiten Leitsatzerhöhungen binnen eines Jahres von unter einem auf mehr als vier Prozent gestiegen.

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