Erstmals seit einer gefühlten Ewigkeit haben CDU, CSU und FDP in einzelnen Umfragen zur Bundestagswahl wieder eine Mehrheit. Das Loch, in das sich die SPD eigentlich verkriechen müsste, kann gar nicht tief genug sein, denn es ist ja nicht die Stärke der Regierung, die sich in den Zahlen spiegelt, sondern die Schwäche der größten Oppositionspartei. Die Bilanz der Koalition nämlich ist auf vielen Gebieten so bescheiden, dass jedes Gerede über eine Wiederwahl noch vor einiger Zeit als Ausweis purer Ahnungslosigkeit oder schwarzen Humors gegolten hätte.
Das Feld, auf dem Schwarz-Gelb wohl am wenigsten zustande gebracht hat, ist die Steuerpolitik. Keines der Versprechen, die Union und Liberale 2009 unter der Überschrift "einfach, niedrig, gerecht" gegeben hatten, wurde eingelöst. Bei der FDP gibt es die Legende, es sei zunächst der auf der Kasse sitzende Bundesfinanzminister gewesen, der eine große Steuerreform verhindert habe, dann der SPD-dominierte Bundesrat und schließlich ein fehlgeleiteter Zeitgeist. Das ist Unsinn. Es waren im Gegenteil die Koalitionsspitzen selbst, die sich das Nachdenken verboten: Weil an keiner einzigen Stelle ein Steuersatz steigen durfte, konnte an anderer Stelle auch keiner sinken.
Offenbar haben sich Union und FDP an die Tatenlosigkeit so sehr gewöhnt, dass sie nun nicht einmal mehr im Wahlkampf auf ihr einstiges Kernthema setzen. Es sei genug Geld da, so die Botschaft, deshalb bestehe kein Änderungsbedarf. Anders SPD und Grüne: Sie halten den Staat für chronisch unterfinanziert und verlangen höhere Einnahmen. Beides ist falsch: Die Steuererlöse sind ausreichend - und trotzdem muss sich etwas ändern. Gering-, Durchschnitts- und Besserverdiener zahlen nämlich zu hohe Steuern und Abgaben, wirklich Reiche hingegen zu wenig.
Spätrömische Dekadenz
Einen Hinweis darauf liefert die jüngste Vermögensstudie der Europäischen Zentralbank. Sie hat viel Aufregung verursacht, weil sie scheinbar ergab, dass die Zyprer und andere vermeintliche Faulenzer in Südeuropa im Schnitt reicher sind als die Deutschen. Die eigentlich interessante Botschaft war aber eine ganz andere: Nirgendwo in Europa sind die Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland.
Dafür gibt es Gründe. Die Entfesselung der Finanzmärkte und die Auflösung der sogenannten Deutschland AG etwa, die die Gehälter von Bankern und Managern explodieren ließ; die rot-grüne Steuerreform des Jahres 2001, die zwar viele Verkrustungen der Ära Kohl löste, die Steuerlast aber zugleich von den Spitzen- und Gering- zu den Durchschnittsverdienern verschob; die Einführung der Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge durch die große Koalition. Wer heute viel arbeitet und ordentlich verdient, führt schnell 40, 45, 50 Prozent des Salärs an das Finanzamt und die Sozialkassen ab. Wer so viel Geld hat, dass er von den Zinsen leben kann, zahlt dagegen nur 25 Prozent; wer Millionen erbt und geschickt ist, gar nichts. Das ist wahrlich spätrömische Dekadenz.
SPD und Grüne leiten aus diesem Umstand nun die Forderung nach einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes von 42 auf 49 Prozent ab. Das mag zunächst plausibel klingen, ist es aber nicht - zumindest dann nicht, wenn der Spitzensatz schon ab einem Jahreseinkommen von 60.000 Euro greift. Zweifellos: Wer 60.000 Euro erhält, gehört zu den Besserverdienern im Land. Er gehört aber zugleich zur Gruppe derer, denen schon heute über Steuern und Abgaben ein Maximum abverlangt wird, die im Kindergarten die höchsten Gebühren zahlen und am Wochenende den Spielplatz von Müll befreien, weil es die Stadtverwaltung nicht tut. Früher wurden solche Menschen in Sonntagsreden gern als "Leistungsträger" bezeichnet.
Statt diese Menschen weiter zu schröpfen, sollte die Politik sie lieber entlasten und damit jenes Wachstum freisetzen, das die internationalen Partner seit Jahren als Beitrag zur Stabilisierung der Weltwirtschaft von Deutschland einfordern. Im Gegenzug muss die Politik endlich diejenigen ins Visier nehmen, die tatsächlich mehr leisten können: die Vermögenden.
Seit dem Jahr 2000 hat sich das Einkommen der Deutschen aus Kapital- und Firmengewinnen um die Hälfte erhöht, das Einkommen aus Arbeit dagegen nur um ein Viertel. 350.000 Millionärshaushalte gibt es mittlerweile. Die nächstliegende Idee ist der Grünen-Vorschlag einer Vermögensteuer, die jedoch ein großes Problem hat: Eine Vermögensteuer belastet immer wieder den gleichen, schon mehrfach besteuerten Besitz, im Zweifel so lange, bis er aufgebraucht ist. Das ist nicht Besteuerung, das ist Enteignung.
Das Vermögen muss vielmehr in dem Moment zur Finanzierung von Kindergartenplätzen, besseren Schulen, Jugendzentren und einer menschenwürdigen Altenpflege herangezogen werden, in dem es den Besitzer wechselt, im Erbfall also. Wer erbt, zumal über eine Generation hinweg, dem fließt ohne jedes eigene Zutun Geld zu. Mit welchem Recht aber verlangt der Staat dem Arbeitnehmer mit 60.000 Euro Verdienst Steuerzahlungen ab, während sein Nachbar die fünffache Summe als Erbe steuerfrei einstreicht?
Gesetzgeber muss kreative Lösungen finden
Die Kritiker dieser Logik argumentieren, dass der Verstorbene den Nachlass ja bereits versteuert hatte. Das stimmt, sagt aber nichts: Denn nicht der Erblasser ist ja das Pendant des Arbeitnehmers, sondern der Erbe, weil beiden Geld zufließt. Das zweite zentrale Gegenargument lautet, dass bei einer drastischen Erhöhung der Erbschaftsteuer Firmen zerschlagen werden müssten, weil der Erbe sonst seine Schulden beim Fiskus nicht bezahlen kann. In der Tat: Wer einen Betrieb erbt, erbt nicht nur einen Vermögenswert, sondern auch Verantwortung. Das muss der Gesetzgeber berücksichtigen - und kreative Lösungen finden. Statt den Wert der Firma zu besteuern, könnte er etwa die Gewinnentnahmen des Erben über einen Zeitraum von 20 Jahren mit Erbschaftsteuer belegen. Oder der Erbe zahlt nichts auf den Betrieb, dafür aber umso mehr auf den privaten Nachlass der Eltern, die schicke Villa etwa oder das teure Auto.
In einem zweiten Schritt muss die Politik die Abgeltungsteuer schlichtweg abschaffen und Kapitalerträge wieder mit dem individuellen Einkommensteuersatz jedes Bürgers belegen. Die Privilegierung des Kapitalanlegers gegenüber dem Arbeitnehmer wäre damit endlich vorbei.
Fast 190 Milliarden Euro hat der Staat 2012 an Lohn- und Einkommensteuer eingenommen. Die Abgeltung- und die Erbschaftsteuern brachten mit acht beziehungsweise vier Milliarden Euro zusammen gerade einmal ein Fünfzehntel dieser Summe ein. Der Missstand ist offenkundig. Dennoch ist Angela Merkel, das zeigen ihre jüngsten Äußerungen, zu keiner Steuerreform bereit. Aber Angela Merkel hat ja auch in der laufenden Wahlperiode schon keine Steuerpolitik betrieben.