Sterbehilfe:Tot sein, wenn man aufwacht

Viele Menschen fürchten die Apparate-Medizin am Ende des Lebens so, wie sie früher den Teufel fürchteten. Sie müssen ihren Willen in eine Patientenverfügung schreiben - und er muss geachtet werden.

Von Heribert Prantl

Als Carl Spitzweg, der Maler der Spätromantik und der Idylle, vor 130 Jahren starb, gab es weder Apparatemedizin noch Patientenverfügung. Spitzweg hat in einem Vers geschildert, wie er sich sein Sterben wünscht: Er wollte sanft im Schlafe sterben - "und tot sein, wenn ich aufwach'". Der Wunsch ging in Erfüllung: Man fand Spitzweg, 77-jährig, tot in seinem Lieblingslehnstuhl in seiner Münchner Wohnung.

Der Lehnstuhl ist Hunderttausenden von Menschen nicht vergönnt. Sie verbringen ihre letzten Monate oder Jahre im Zustand künstlich aufrecht erhaltenen Lebens. Der natürliche Sterbevorgang, nach Schlaganfall oder Unfall, wird mit Magensonde und anderen Apparaturen verlängert und verhindert. Oft wird so das letzte Quentchen Leben herausgekitzelt.

Manchen liebenden Angehörigen ist das ein Trost, weil das die Illusion weckt, dass das Unabwendbare noch abwendbar ist: reagiert der fast Leblose nicht auf äußere Reize?, fragen sie; und hört man nicht immer wieder, dass Wachkoma-Patienten doch noch aufgewacht sind? Andere liebende Angehörige sagen: Dieses Elend hätte der Kranke nicht gewollt; sie möchten dessen vermuteten Willen umsetzen. Die einen wollen also aus Liebe alle Apparate laufen lassen, die anderen diese aus Liebe abschalten. Der Kranke wird zur Projektionsfläche für Gefühle und Wünsche seiner Angehörigen.

Fachanwalt fürs Sterberecht? Bitte nein! Da soll und muss ein Jeder sein eigener Anwalt sein

Im Fall des Vincent Lambert in Frankreich hat das dazu geführt, dass die streitenden Angehörigen die Gerichte aller Instanzen bemühen. Die Justiz hat nun Partei ergriffen für die Angehörigen, die das Abschalten wollen. Es lag hier kein erklärter eigener Wille des Betroffenen vor, also keine Patientenverfügung; es ist daher heikel zu behaupten, er werde gegen seinen Willen behandelt. Er "vegetiere" nur dahin, sagen die Abschaltwilligen; das ist eine Vermutung, ein Werturteil über den rätselhaften Zustand, in den man nicht vordringt und der so viel Angst auslöst; solch eine Aussage beruht wohl auch auf der Furcht, dass man selber diesem unheimlichen Zustand ausgeliefert sein könnte.

Hätte die Justiz im Fall Lambert anders urteilen sollen? Die Uneinigkeit in der Familie könnte dafür sprechen, den Mann am Leben zu lassen - auch deshalb, weil Menschen da sind, die ihn in ihr Leben einbeziehen und sich um ihn kümmern wollen. Lambert kann aus eigener Kraft atmen, sein Herz-Kreislauf-System funktioniert. Seine Krankheit schreitet nicht irreversibel zum Tode fort wie eine Krebserkrankung. Er hat ein krankes Gehirn, ist in einem nicht zugänglichen Bewusstseinszustand. Ist das Leben mit eingeschränktem Bewusstsein nur eingeschränkt zu schützen? Er ist immerhin stabil, wenn man ihn ernährt. Niemand weiß, ob er leidet. Gewiss aber ist das Leiden der Angehörigen an dieser Situation. Manchmal ist es weise zu warten. Manchmal tritt eine weitere Krankheit hinzu, die eine neue Entscheidung fordert, aber auch neue Freiheit dazu gewährt.

Viele Menschen fürchten den Kontrollverlust, wie sie früher den Teufel gefürchtet haben. Wer diese Angst hat, muss eine Patientenverfügung schreiben, die alle Maßnahmen untersagt, "die nur den Todeseintritt verzögern". Richter müssen diesen Willen achten, Ärzte auch. Das ist gute passive Sterbehilfe. Dann braucht man keinen Fachanwalt fürs Sterberecht.

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