Sterbehilfe:Regeln oder Wildwuchs

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In den allermeisten Fällen sind es alte, kranke Menschen, die den Sterbewunsch äußern. (Foto: Sebastian Kahnert/dpa)
  • Das vor fünf Jahren erlassene Verbot der Sterbehilfe gilt nicht mehr.
  • Immer mehr Ärztekammern akzeptieren die Praxis.
  • Zahlreiche Vereine bieten inzwischen wieder Freitodbegleitung in Deutschland an, Dutzende Menschen sollen ihre Hilfe in Anspruch genommen haben.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Immerhin hat nun der Deutsche Ethikrat über das Recht auf Beistand beim Suizid debattiert. Ansonsten ist es nämlich um das vor fünf Jahren so leidenschaftlich diskutierte Thema auffallend ruhig geworden, seit das Bundesverfassungsgericht in seinem spektakulären Urteil vom Februar das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe für verfassungswidrig erklärt hat. Dabei findet nun, da Sterbehilfevereine wieder legal tätig werden dürfen, genau das statt, was die große Koalition mit dem Verbot von 2015 unterbinden wollte.

Roger Kuschs "Sterbehilfe Deutschland e. V." und sein "Verein Sterbehilfe" sind wieder aktiv, auch "Dignitas Deutschland" bietet Freitodbegleitungen in Deutschland. Dutzende von Menschen sollen seither die Hilfe dieser Organisationen in Anspruch genommen haben.

Der Ethikrat hat in diesen Tagen ausgelotet, welche Konsequenzen aus dem Urteil zu ziehen sind. Wie gewohnt, ist die Spannbreite in dem divers besetzten Gremium weit. Während der Tübinger Medizinethiker Franz-Josef Bormann den freien Willen zum Suizid unter beträchtliche moralische Vorbehalte stellen möchte, plädierte die Strafrechtlerin Frauke Rostalski dafür, das bisher noch unangetastete Verbot einer "Tötung auf Verlangen" zu lockern - womit Sterbehilfevereine weit mehr tun dürften als nur den Giftbecher zu reichen.

Aufklärung und Beratung dürften in einem neuen Gesetz eine wichtige Rolle spielen

Aber jenseits solcher Extrempositionen schälte sich in der im Internet übertragenen Diskussion heraus, wo bei einer Neuregelung heikle Punkte liegen könnten. Da eine komplette Freigabe der Suizidhilfe politisch unwahrscheinlich ist, werden Beratung und Aufklärung eine zentrale Rolle spielen.

Sollte der Staat aber durch weitreichende Beratungspflichten letztlich Menschen zum Leben zu drängen versuchen, aus dem sie eigentlich scheiden wollen, würde sich irgendwann die Frage stellen: Wie frei wäre dann noch der freie Wille, den das Karlsruher Gericht über alles stellt? Ein Indikationsmodell, wie man es vom Schwangerschaftsabbruch kennt - also Suizidhilfe nur bei Vorliegen triftiger Gründe - wäre jedenfalls verfassungswidrig, da war sich der Rechtsprofessor Stephan Rixen sicher.

Im Mittelpunkt steht die Frage, ob der Sterbewunsch wirklich freiwillig ist

Aber so sehr das Bundesverfassungsgericht den Suizid als Akt autonomer Selbstbestimmung charakterisiert, der von Staat und Gesellschaft zu respektieren ist und keiner Begründung bedarf: Nach Rixens Einschätzung lässt das Urteil erheblichen Spielraum für ein "Sicherungskonzept", das die Menschen von vorschnellen Entscheidungen abhalten soll.

Im Mittelpunkt steht natürlich stets die Frage, ob der Sterbewunsch wirklich freiwillig ist - oder etwa Folge einer Depression. Aber auch darüber hinaus sind beispielsweise Aufklärungs- und Wartepflichten zulässig, auch Erlaubnisvorbehalte für Sterbehilfevereine und sogar Verbote gefahrträchtiger Organisationen.

Das Karlsruher Urteil liest sich wie ein Aufruf an den Gesetzgeber, neue Vorgaben zu formulieren

Zudem hat Karlsruhe es ausdrücklich als legitim bezeichnet, einer gesellschaftlichen Normalisierung des Suizids entgegenzuwirken. Eine freie Entscheidung des Suizidwilligen setze zwingend eine umfassende Beratung und Aufklärung über Alternativen voraus, heißt es in dem Urteil.

Das liest sich geradezu wie ein Aufruf an den Gesetzgeber, detaillierte Vorgaben für Sterbehilfevereine zu formulieren. Gesetzentwürfe gab es bisher aber lediglich aus der Zivilgesellschaft. In Berlin ist es vor allem die Opposition, die auf eine Regelung dringt, allen voran durch die FDP-Bundestagsabgeordnete Katrin Helling-Plahr. Sie hat bereits ein Eckpunktepapier formuliert, das auf eine unabhängige Beratungsstelle für Suizidwillige setzt. Mit anderen Abgeordneten hat sie einen fraktionsübergreifenden Gesprächskreis gebildet. Ziel: Eine Orientierungsdebatte im Bundestag noch vor Jahresende.

Zwar hat auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schon im April Verbände und Wissenschaftler um ihre "Expertise und Erfahrung" für eine etwaige Reform gebeten. Beobachter aber vermuten, dass die Union auf Zeit spielt, um eine Reform im Wahljahr zu vermeiden.

Berufsethisch sind immer weniger Ärzten die Hände gebunden

Möglicherweise werden Regierung und Bundestag aber auch von der Wirklichkeit überholt. Bisher verbieten zehn von 17 Berufsordnungen der Landesärztekammern den Medizinern jede "Hilfe zur Selbsttötung" und halten sich damit an die Vorgabe der Bundesärztekammer (BÄK); in zwei weiteren Regelwerken, in Berlin und Westfalen-Lippe, heißt es zudem, Ärzte "sollen" keine Suizidhilfe leisten. Doch es ist absehbar, dass die Verbote fallen werden wie Dominosteine, einige davon wohl noch vor dem Deutschen Ärztetag im Mai 2021, bei dem das Thema auf der Tagesordnung stehen soll.

Während die BÄK noch vage auf die "innerärztliche Debatte zur Anpassung des ärztlichen Berufsrechts" verweist, wird der Geschäftsführer der Thüringer Kammer, Matthias Zenker, deutlicher. Das Verbot sei rechtswidrig, schrieb er kürzlich im Ärzteblatt des Landes. "Wir werden alsbald über die Kammerversammlung die Berufsordnung anpassen." Und die hessische Kammer teilt auf Anfrage mit, das Verbot sei "nicht mehr belastbar und bedarf einer Überarbeitung".

Sobald aber immer weniger Ärzten durch die Berufsordnung die Hände gebunden sind, dürfte ihre Rolle als Suizidhelfer wie von selbst wichtiger werden. Sie sind ohnehin die ersten Ansprechpartner, denn in den allermeisten Fällen sind es eben doch alte, kranke Menschen, die den Sterbewunsch äußern.

In einem weiteren Verfahren wollen Kläger erreichen, dass sie ein Suizidmittel erwerben dürfen

Den Weg dahin könnte ein Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Köln ebnen, über das am 24. November verhandelt wird. Dort wollen mehrere Kläger durchsetzen, dass ihnen das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte den Erwerb von Natrium-Pentobarbital gestattet, das bisher als das sicherste Suizidmittel gilt. Nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts muss eine solche Erlaubnis für Patienten in extremen, ausweglosen Situationen erteilt werden - aber bisher hat das Bundesinstitut auf Weisung Spahns alle Anträge abgelehnt.

Das Kölner Verwaltungsgericht hatte das Verfahren zunächst ausgesetzt und das Bundesverfassungsgericht angerufen, das - obwohl die Vorlage aus Köln unzulässig war - eine interessante Antwort gab. Vielleicht sei die Erlaubnis des Bundesinstituts ja nicht der einzige Weg, um an das Mittel zu kommen. Möglicherweise, so deuteten die Richter an, könnte es einfach nur vom Arzt verschrieben werden, zumal nach dem Karlsruher Urteil vom Februar. Rechtsanwalt Robert Roßbruch, der in Köln zehn Kläger vertritt, ist sich sicher: Natrium-Pentobarbital ist verschreibungsfähig.

Vor diesem Hintergrund wäre es geradezu fahrlässig, die Neuregelung der Sterbehilfe auf die lange Bank zu schieben. Denn mit einer berufsethischen Akzeptanz der Suizidhilfe sowie einer gerichtlichen Befugnis, das Rezept zum Tod auszustellen, könnte sich sonst eine ziemlich regellose Praxis der Sterbehilfe etablieren. Also genau das, was der Gesetzgeber vor fünf Jahren unterbinden wollte.

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