SZ: Herr Lilie, für Sie ist vorstellbar, dass in den Einrichtungen der Diakonie ein assistierter Suizid möglich wird. Das haben Sie in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung erklärt, gemeinsam mit anderen Vertreterinnen und Vertretern der evangelischen Kirche. Wie waren die Reaktionen?
Ulrich Lilie: Ich habe fast 25 Jahre meines Berufslebens an den Betten von sterbenden Menschen gesessen. Ich weiß, dass es hier um Fragen geht, die mitten ins Herz gehen. Sie treffen die Menschen in ihrer ethischen Haltung, ihrer Frömmigkeit, ihrem ganz persönlichen Glauben. Das muss jeder respektieren, der das Thema anspricht. Es hat entsetzte Ablehnung gegeben, aber wir haben auch gehört: Endlich wird das Thema offen diskutiert.
Die meisten Kirchenvertreter haben das Verfassungsgerichtsurteil vor nunmehr fast genau einem Jahr zur Sterbehilfe scharf kritisiert. In Ihrem Beitrag sehen Sie das Urteil nicht so kritisch. Warum?
Ich habe, als das Urteil kam, sehr kritische Rückfragen gestellt. Es birgt aus meiner Sicht die Gefahr, die Selbstbestimmung zu einem Fetisch zu machen. Gleichwohl stellt uns jetzt die rechtliche Realität, die dieses Urteil geschaffen hat, vor die Frage: Was wollen wir denn anderes als letzten Maßstab respektieren, wenn jemand sein Leben beenden will, als die ethische Selbstkompetenz des Einzelnen zur Entscheidung? Wir werden ja auch in unseren Einrichtungen Menschen haben, die sagen, ich kann mein Leben so nicht mehr aushalten und ich suche jemanden, der mir dabei hilft, aus dem Leben zu gehen. Und wir sollten uns vorher Gedanken darüber machen, wie wir dann antworten wollen.
Debatte:EKD lehnt Sterbehilfe in kirchlichen Einrichtungen ab
Ein Papier führender protestantischer Theologen regt an, entsprechende "Rahmenbedingungen für eine Wahrung der Selbstbestimmung bereitzustellen". Die Evangelische Kirche Deutschland erwidert, Selbsttötung dürfe keine Option werden.
Sind Sie da nicht sehr vorauseilend? Es muss sich nun erst einmal der Gesetzgeber Gedanken machen, nicht die Diakonie.
So einfach ist das nicht. Ich habe direkt nach dem Urteil Briefe von verschiedenen Sterbehilfe-Organisationen bekommen, die gefragt haben: Was machen Sie jetzt, wenn wir Menschen in Ihren Einrichtungen begleiten wollen? Da habe ich gesagt, das werden wir in aller Ruhe diskutieren. Aber das zeigt: Wir brauchen diesen Meinungsbildungsprozess. Jetzt können sich Menschen darauf berufen, dass sie ein Recht auf eine Assistenz beim Suizid haben. Das hat das Verfassungsgericht uns zum Kauen gegeben. Wir müssen jetzt die Debatte führen können, ohne dass uns der Vorwurf gemacht wird, wir seien mit der Giftspritze unterwegs.
Wurden Sie denn schon konkret damit konfrontiert, dass Patienten sagten: Ich möchte, dass ihr mir beim Suizid helft?
Das Thema begleitet mich, seitdem ich Todkranke und Sterbende begleite - ebenso übrigens die Skepsis der Kirchenvertreter. Als ich eins der ersten Hospize in Deutschland mitgegründet habe, vor 25 Jahren, war Deutschland ein Entwicklungsland, was die Palliativmedizin anging. Wir haben dafür gesorgt, dass Hospize und Palliativeinrichtungen jetzt Teil der Regelversorgung sind. Da kommen wir her.
Sie plädieren für eine Beratungslösung, die sicherstellen soll, dass die Entscheidung zum assistierten Suizid bewusst und in Freiheit getroffen wurde. Wie könnte eine solche Beratungslösung aussehen?
Ich kann mir vorstellen, dass man bestens qualifizierte Menschen hat, Seelsorger, die Anwältinnen und Anwälte des Lebens sind, die sicherstellen, dass dies wirklich eine selbstbestimmte Entscheidung ist. Denn ich bin da überhaupt nicht naiv: Wir diskutieren diese Fragen in einer durchökonomisierten medizinischen Welt, auf der ein hoher wirtschaftlicher Druck lastet. Wir leben in einer Welt, in der Menschen einer furchtbaren Logik der Nützlichkeit ausgesetzt sind, in der sie am Ende selber sagen: Ich bin zu nichts mehr nütze. Da sei der liebe Gott vor. Das müssen wir auf jeden Fall verhindern, denn das sind und bleiben wir: Anwälte des Lebens.
Wie wollen Sie das sicherstellen?
Ich habe schon 2015, nach der Verabschiedung des jetzt vom Verfassungsgericht gekippten Sterbehilfe-Gesetzes, dem damaligen Gesundheitsminister Hermann Gröhe gesagt: Wenn wir dieses Nein zum gewerbsmäßig organisierten assistierten Suizid vertreten, dann müssen wir alles dafür tun, dass gerade in den Pflegeheimen eine palliative Versorgung höchster Klasse gewährleistet und finanziert ist. Wir brauchen in jeder Station eine qualifizierte palliative Fachkraft. Das gibt es leider bis heute nicht. Wir müssen den Menschen in jedem Augenblick die Sicherheit vermitteln, dass wir mit aller Leidenschaft an ihrer Seite stehen, damit sie möglichst nie in die Lage kommen, ihr Leben als ausweglos zu empfinden.
Wie wollen Sie verhindern, dass eine überlastete Pflegekraft einem Patienten sagt: Es wäre besser, wenn Sie stürben? Und dann auch noch das entsprechende Angebot zur Verfügung steht?
Ich nehme mal das Beispiel der medizinisch indizierten Spätabtreibungen, um zu verdeutlichen, was wir wollen. Als die Debatte anstand, ob wir uns daran beteiligen, da haben sich die diakonischen Träger, die sich ja auch immer stark in der Behindertenhilfe engagiert haben, fast zerrissen. Viele Einrichtungen sind dann nach langen Entscheidungsprozessen zu Leitlinien gekommen, unter denen ein solcher Abbruch dort nun möglich ist - immer unter der Bedingung, dass keine Mitarbeiterin, kein Mitarbeiter dazu gezwungen werden darf. Das finde ich gut evangelisch, dass wir uns auf der Suche nach vertretbaren, verantwortbaren Lösungen gemeinsam tastend nach vorne bewegen.
Glauben Sie, dass es eine Art verpflichtende Konfliktberatung, wie es sie für Schwangere als Voraussetzung für eine straffreie Abtreibung gibt, auch am Lebensende geben kann?
Der Konflikt um eine ungewollte Schwangerschaft und der Sterbenswunsch eines Todkranken sind nur bedingt vergleichbar. Aber auch bei der Konfliktberatung sind wir zu der Erkenntnis gekommen: Es gibt keinen Weg gegen den Willen der Mutter. Wir müssen ihr mögliche Alternativen zur Abtreibung aufzeigen, am Ende aber muss die Achtung vor der Selbstbestimmung und der ethischen Selbstkompetenz der Frau stehen. Der Grundkonflikt ist uns insofern vertraut. Natürlich kann es keine Beratungsstellen geben, zu denen dann Schwerkranke gefahren werden. Aber es könnte ein Beratungsangebot in Heimen aufgebaut werden.
Nehmen Sie nicht in Kauf, dass es heißt: Wenn das die christliche Diakonie anbietet, kann das nicht so problematisch sein?
Nein. Wir werden niemals werben: Hier bekommen Sie Hilfe zum Suizid, besser als bei den anderen. Das wird es nicht geben!
Wie könnte eine solche Sterbebegleitung konkret aussehen? Holen Sie sich eine Organisation ins Haus, die das für Sie macht?
Nein, das wollen wir nicht. Ich persönlich würde einen Menschen, der sich assistierten Suizid wünscht, nicht alleine lassen. Ich würde, wenn er das wünscht, mit ihm beten, Abendmahl feiern, ihn auf dem letzten Weg begleiten, mit den Angehörigen. Es wäre eine Form von Zulassen und Begleiten, keine Form der Förderung. Es wäre sogar denkbar, dass wir Sterbewillige mit bestimmten Formen und Ritualen begleiten.
Dann bräuchten Sie ein Sterbehilfe-Ritual, bräuchten Seelsorger und Ärzte, die das mitmachen. Alles im Namen der Diakonie.
Vergessen Sie bitte nicht: Wir stehen am Anfang und nicht am Ende einer Debatte. Und da wollen wir nichts empfehlen oder gar befehlen.
Sie reden von Selbstbestimmung und Würde. Viele Heimbewohner empfinden ihr Leben nicht als selbstbestimmt und würdevoll.
Das ist unsere Selbstverpflichtung. Als ich als junger Pfarrer in Düsseldorf ein Hospiz gründen wollte, waren Landeskirchenamt und Diakonie sehr skeptisch: Wollen Sie wirklich eine Sterbeklinik eröffnen, Herr Lilie? Nach der Geschichte, die wir haben? Ja, wir tragen - evangelisch wie katholisch - im Gepäck auch eine große Schuldgeschichte mit uns herum: Die Geschichten der Menschen mit Behinderung, die aus unseren Einrichtungen heraus deportiert und ermordet wurden. Trotzdem müssen wir jetzt diese Debatte führen. Es gibt ja auch eine Schuldgeschichte gegenüber Menschen, die ihrem Leben ein Ende gesetzt haben. Das ist ein hochexplosives Spannungsfeld, dessen bin ich mir sehr bewusst.
Haben Sie Beispiele aus dem Ausland vor Augen, wo Menschen nicht so befangen sind wie die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte?
In der Schweiz ist Suizid-Assistenz ja eine Realität, auch in den Niederlanden. In beiden Ländern sagen große Teile der evangelischen Kirche: Wir haben da eine Praxis entwickelt, mit der wir leben können.
Dort ist aber genau das passiert, was Sie verhindern wollten: der Druck auf alte Menschen ist gestiegen, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Zeichnen Sie da nicht eine ideale Welt eines tollen, diakonischen Krankenhauses, wo niemand sich das Sterben wünschen muss?
Ich beschreibe keine ideale Welt, sondern eine Zielvorstellung. Dass die Realität immer davon entfernt ist, das ist unstrittig. Aber das ist doch kein ernsthaftes Argument dagegen, dass man die angesprochenen Fragen diskutiert!
Gab es Einwände gegen Ihre Thesen, die Sie nachdenklich gemacht haben?
Wir haben geschrieben, dass die Beratung "neutral" sein müsse. Das ärgert mich im Nachhinein. Es muss heißen: ergebnisoffen, aber wertegebunden. Natürlich sind wir nicht neutral in diesen Fragen.
Sie haben viele Menschen am Lebensende begleitet. Überwiegt nach Ihrer Erfahrung der Wunsch, das Leben frei und selbstbestimmt zu beenden? Oder doch eher der Wunsch, bis zum Schluss zu leben?
Oft sind das ambivalente Entscheidungen: Der Mensch hat immer noch einen Grund zum Leben, aber auch viele Gründe, wo er sagt, ich kann das nicht mehr. Ich war im Zweifel für das Leben und habe immer gesagt: Überlegen Sie sich das gut. An amerikanischen Landstraßen stand früher ein Schild: "Drive slowly. Death is so permanent". Aber die letzte Kompetenz hat der betroffene Mensch.
Sie schließen für sich selbst den assistierten Suizid aus. Was macht Sie so sicher?
Alles in mir würde sich erst mal dagegen wehren. Ich hoffe und bete, dass ich nicht in eine Situation komme, die so verzweifelt ist, dass ich mir nur noch den Tod wünsche. Aber sicher macht mich da nichts.