Süddeutsche Zeitung

Bundesverfassungsgericht:Bekenntnis zur Selbstbestimmung

Karlsruhe kippt das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe. Mit welcher Begründung? Mit welchen Folgen? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Wolfgang Janisch und Michaela Schwinn

Worum geht es bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

Bei der Entscheidung in Karlsruhe geht es vordergründig um Paragraf 217 des Strafgesetzbuches. Dieser wurde 2015 - nach langer, hitziger Debatte im Bundestag - beschlossen und sollte vor allem die Tätigkeit von Sterbehilfevereinen wie Dignitas und Sterbehilfe Deutschland unterbinden. Er stellte die geschäftsmäßige Hilfe beim Suizid unter Strafe - es drohten bis zu drei Jahre Haft. Zwar bremste das Gesetz die Sterbehilfevereine ein, aber auch Ärzte, die ihren Patienten todbringende Medikamente verschrieben, mussten mit einer Anklage rechnen. An diesem Mittwoch ging es nun darum, ob sich das Gesetz mit der Verfassung vereinbaren lässt. Die Richter in Karlsruhe befanden: nein. Sie erklärten Paragraf 217 für nichtig.

Wie begründen die Richter das Urteil?

Das Urteil ist ein fundamentales Bekenntnis zur Autonomie des Menschen in Fragen von Leben und Tod. "Die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende gehört zum ureigensten Bereich der Personalität des Menschen", heißt es dort. Dieses Recht ist nicht etwa auf alte oder schwer kranke Menschen beschränkt, die ihres Lebens müde sind. "Es besteht in jeder Phase der menschlichen Existenz." Damit bringt das Verfassungsgericht ein ganz grundlegendes Verständnis von Freiheit zum Ausdruck, das Konsequenzen hat.

Der Sterbewillige darf die Hilfe anderer Menschen in Anspruch nehmen. Und der Gesetzgeber muss diese Hilfe möglich machen. Er kann sie nicht verordnen, darf sie aber auch nicht vollständig verbieten. Genau dies ist aus Sicht des Gerichts aber durch die Einführung des Paragrafen 217 geschehen: Mit der Strafandrohung gegen "geschäftsmäßige" Sterbehilfe seien die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung "faktisch weitgehend entleert", befand das Gericht. Denn nur eine Minderheit der Ärzte ist dazu bereit - ihr eigenes Berufsrecht untersagt Suizidbeihilfe in der Mehrzahl der Länder. Und Hospiz- und Palliativversorgung können dieses Defizit nicht ausgleichen.

Wer sind die Kläger?

Gegen Paragraf 217 legten mehrere Kläger Verfassungsbeschwerde ein. Darunter waren Sterbehilfevereine wie Dignitas oder Sterbehilfe Deutschland, sie konnten durch das Gesetz nicht mehr arbeiten. Unter den Klägern waren aber auch Schwerkranke, die für einen legalen Ausweg kämpften, wenn sie ihr Leben nicht mehr ertragen konnten. Außerdem legten mehrere Palliativmediziner Beschwerde ein. Nachdem Paragraf 217 beschlossen wurde, wussten viele nicht mehr, was sie als Arzt noch dürfen und was nicht. Manche halfen ihren Patienten nicht mehr beim Suizid und schickten schwer kranke Menschen weg, andere redeten nicht mehr offen über ihre Arbeit.

Welche Reaktionen gab es?

Mit scharfer Kritik von Kirchenvertreter war zu rechnen: Diakonie-Präsident Ulrich Lilie warnte vor einer Dynamik mit nicht abschätzbaren Folgen: "Beihilfe zum Suizid darf keine Alternative zu einer aufwendigen Sterbebegleitung sein." Aber auch Vertreter der Ärzteschaft und vor allem der Palliativmedizin sehen eine zu starke Öffnung der Sterbehilfe: Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Hospiz- und Palliativmedizin, Lukas Radbruch, warnte vor "freier Fahrt für Sterbehilfeorganisationen". Der Deutsche Hospiz- und Palliativverband äußerte die Sorge vor einer Entsolidarisierung mit schwerstkranken Menschen. Zuspruch kam vor allem aus den Reihen von Grünen und FDP. Die FDP-Abgeordnete Katrin Helling-Plahr kündigte einen fraktionsübergreifenden Antrag für ein "liberales Sterbehilfegesetz" an.

Was bedeutet das Urteil für die Sterbehilfevereine?

Da Paragraf 217 mit der Verkündung des Urteils null und nichtig ist, können sie vorerst ihre Arbeit wieder aufnehmen. Der Vorsitzende des Vereins Sterbehilfe Deutschland und frühere Hamburger Justizsenator Roger Kusch sprach schon kurz nach der Urteilsverkündung davon, sein Angebot auszuweiten. "Ab heute gilt das Grundrecht auf Suizid", sagte er.

Wie geht es weiter?

Nun ist der Bundestag erneut am Zug. Das Bundesverfassungsgericht hat ihm ausdrücklich einen Rahmen gesetzt, innerhalb dessen er auch eine restriktive Sterbehilferegelung treffen kann. Zum einen weist der Zweite Senat selbst ausdrücklich auf die Risiken hin, die von einer geschäftsmäßigen Suizidhilfe ausgehen. Oft stehe eben nicht der freie Wille hinter dem Wunsch nach Selbsttötung, sondern eine akute psychische Störung. Der Wille sei hier oft sehr wechselhaft. "Eine freie Entscheidung setzt daher zwingend eine umfassende Beratung und Aufklärung hinsichtlich möglicher Entscheidungsalternativen voraus", heißt es in dem Urteil. Zweitens hält das Gericht es für legitim, einer "gesellschaftlichen Normalisierung" der Suizidhilfe entgegenzuwirken, auch mit Strafgesetzen. Menschen dürften dadurch nicht unter Erwartungsdruck gesetzt werden.

Welche Regelungen sind denkbar?

Die Richter haben etwa eine Beratungslösung ins Spiel gebracht, ähnlich wie man sie vom Schwangerschaftsabbruch kennt. Auch Wartepflichten sind möglich, ebenso eine Zuverlässigkeitsprüfung für Sterbehelfer - oder auch Verbote bestimmter Organisationsformen. Auch eine Liberalisierung des Betäubungsmittelrechts ist denkbar; das Bundesverwaltungsgericht hatte bereits 2017 entschieden, dass für unheilbar kranke Patienten in Extremfällen ein Anspruch auf Erwerb eines todbringenden Mittels besteht. Im Urteil wird zudem das zersplitterte ärztliche Berufsrecht genannt - zehn von 17 Ärztekammern haben sich für ein Verbot der ärztlichen Suizidhilfe entschieden. Ob auf lange Sicht Sterbehilfeorganisationen doch wieder komplett verboten werden dürfen, könnte damit auch von der Entwicklung bei den Ärzten abhängen. Derzeit, so das Gericht, seien noch zu wenige von ihnen bereit, Suizidhilfe zu leisten.

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SZ vom 27.02.2020/kit
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