Steinmeier in der Ukraine:"Worte versagen vor dem Ausmaß ihrer Grausamkeit"

Bundespräsident Steinmeier in der Ukraine

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier legt am Mittwoch in Korjukiwka Blumen für die Opfer deutscher Massenerschießungen nieder.

(Foto: Britta Pedersen/DPA)

Der Bundespräsident Steinmeier erinnert an NS-Massaker in der Ukraine. Das Gedenken an die Gräueltaten sei heute "viel zu blass".

Von Nico Fried, Berlin

Sie ist eine der letzten Zeuginnen. Frank-Walter Steinmeier trifft am Mittwochmorgen Halyna Popowa, geboren 1937 als zweites von vier Kindern einer Bibliothekarin und eines Traktorfahrers in dem ostukrainischen Ort Korjukiwka. Frau Popowa erzählt, wie sie sich 1943 als kleines Mädchen mit der Mutter und den Geschwistern - der Vater war schon in deutscher Kriegsgefangenschaft gestorben - unter den Kartoffeln im Keller eines Nachbarn versteckt hat, als die Deutschen die nächste Grausamkeit in Angriff nahmen. Frau Popowas Großeltern mussten sterben, weil sie sich nicht überreden ließen, ihr Haus zu verlassen. "Der Weg, den wir damals gegangen sind, den gehe ich heute jeden Tag", sagt Frau Popowa. "Und jeden Tag denke ich daran, was damals passiert ist."

Am Morgen des 1. März umstellten Kommandos der SS Korjukiwka. Sie holten die Bewohner aus ihren Häusern und trieben sie in großen Gebäuden zusammen. Zum Anlass nahm ein Stabschef der Wehrmacht, der den Befehl erteilte, einen Partisanenangriff, bei dem wenige Tage zuvor einige Soldaten einer deutsch-ungarischen Garnison getötet worden waren. Es wurde mit mehreren Tausend Toten die größte sogenannte Strafaktion, die deutsche Einheiten während des Zweiten Weltkriegs an der nicht-jüdischen Zivilbevölkerung eines überfallenen Staates begingen.

Frank-Walter Steinmeier ist am Mittwoch auf Einladung von Präsident Wolodimir Selenskij in die Ukraine gereist. Korjukiwka ist seine erste Station, abends nimmt er gemeinsam mit dem neuen israelischen Staatspräsidenten Isaac Herzog an den Feierlichkeiten zur Erinnerung an das Massaker von Babyn Jar vor 80 Jahren teil. In der Schlucht Babyn Jar am Stadtrand von Kiew hatten die Besatzer schon Ende September 1941 binnen zwei Tagen mehr als 33 000 jüdische Frauen und Männer erschießen lassen.

Zweifaches Gedenken an einem Tag ist für den Bundespräsidenten durchaus zu bewältigen - die Distanzen zwischen den Orten deutscher Verbrechen sind in dieser Region nicht allzu groß. "Es waren Deutsche, die diese Gräuel begangen haben", wird Steinmeier später in seiner Rede zu den Ereignissen sowohl in Korjukiwka wie auch in Babyn Jar bekennen. "Worte versagen vor dem Ausmaß ihrer Grausamkeit und Brutalität."

Zehn weiße Rosen

In Korjukiwka wüteten mehrere 100 Schergen unter deutschem Kommando. Sie erschossen wahllos unschuldige Menschen, etwa 500 allein in einer Gaststätte, oder jagten sie in die Flammen der Häuser, die sie in Brand gesetzt hatten. Eine Woche später kehrten die Täter noch einmal zurück, um Überlebende zu töten. Insgesamt starben in Korjukiwka nach offiziellen sowjetischen Angaben etwa 6700 Menschen. Doch die genaue Zahl ist schwer festzustellen, weil anhand der Überreste der Opfer in vielen Fällen eine Identifikation nicht mehr möglich war.

Steinmeier legt erst am Denkmal des Massakers zehn weiße Rosen ab, später noch einen Kranz an einer Umbettungsstätte, wo in den vergangenen Jahren neben einer kleinen Kapelle die Überreste von 262 Getöteten unter drei großen Holzkreuzen bestattet wurden. Korjukiwka steht in einer Reihe mit den Gräueltaten von Lidice oder Oradour. Doch obwohl die Zahl der Toten in dem ukrainischen Ort um ein Vielfaches höher lag, ist die Geschichte Korjukiwkas in Deutschland wenig bekannt. Auch juristisch ist Korjukiwka kaum aufgearbeitet worden. Die Historikerin Tanja Penter, Professorin an der Universität Heidelberg, sagt, in der Sowjetunion seien mehr örtliche Helfer der Besatzer verurteilt worden als in Deutschland wahre Täter.

Steinmeier hat in seiner ersten Amtszeit wiederholt Orte besucht, die es nicht ins Bewusstsein der Nachkriegsgesellschaft geschafft haben. So besuchte er bereits Maly Trostenez in Weißrussland, wo sich die größte Vernichtungsstätte der Deutschen auf dem Boden der Sowjetunion befand, Wielun in Polen, das zu Kriegsbeginn 1939 von der deutschen Luftwaffe bombardiert wurde, und Fivizzano in Italien, wo 1944 die SS 400 Unschuldige ermordete.

Es gibt eine unrühmliche Verbindung zwischen Babyn Jar und Korjukiwka, wie der in der Ukraine lebende Schriftsteller Christoph Brumme berichtet: An beiden Aktionen war das SS-Sonderkommando 4a beteiligt, dessen Blutspur sich noch durch andere Orte der Ukraine zieht. 80 Jahre später zieht der Bundespräsident in Babyn Jar eine andere Linie: "All diese Orte haben keinen angemessenen Ort in unserer Erinnerung", sagt Steinmeier. Auf der Landkarte des Gedenkens seien sie in der Ukraine "viel zu blass, viel zu schemenhaft verzeichnet". Deshalb sei es ihm wichtig, sie zu besuchen.

Die Erde bewegte sich

Der Bundespräsident nimmt damit eine Klage auf, die von der ukrainischen Seite häufig erhoben wird, zuletzt von ihrem Botschafter in Berlin. "Unsere enormen Opfer werden immer noch von der deutschen Politik und Öffentlichkeit übersehen", sagte Andrij Melnyk kurz vor Steinmeiers Reise dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Im Vorwort zu einem Ukraine-Sammelband des Berliner Zentrums für liberale Moderne schreibt auch der Historiker Timothy Snyder: Im Zentrum von Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion "stand nicht nur Russland, sondern vor allem die Ukraine". Dabei steht Babyn Jar für den sogenannten Holocaust mit Kugeln - die Judenvernichtung durch Massenerschießungen, der mindestens zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen.

In Kiew folgten Zehntausende Juden dem Aufruf, sich an der Babyn Jar, der "Weiberschlucht", zu sammeln. Sie glaubten, sie würden umgesiedelt. Wie Angehörige des Sonderkommandos 4a Jahre später in Vernehmungen berichteten, stapelten ihre Mörder die Leichen übereinander, indem sie die Menschen zwangen, sich vor ihrer Erschießung auf die bereits Getöteten zu legen. Weil nicht alle Opfer sofort starben, bewegte sich die Erde, mit der sie zugeschüttet worden waren, noch tagelang, heißt es in einem Aufsatz des Journalisten und Ukraine-Experten Klaus Wolschner. Als Belohnung erhielten die für die Tötungen im Schichtbetrieb eingesetzten deutschen SS-Männer und Sicherheitspolizisten zusätzliche Rationen Schnaps.

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