Steinmeier zum Verfassungsjubiläum"Wir leben in einer Zeit der Bewährung"

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Beim Staatsakt sprach Steinmeier auf einer Bühne zwischen Reichstag und Bundeskanzleramt.
Beim Staatsakt sprach Steinmeier auf einer Bühne zwischen Reichstag und Bundeskanzleramt. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier appelliert zum 75. Bestehen des Grundgesetzes an alle Bürger, die Demokratie zu verteidigen.

Von Philipp Saul, München/Berlin

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands nachdrücklich zur Verteidigung der Demokratie aufgerufen. "Selbstbehauptung ist die Aufgabe unserer Zeit", sagte er bei einem Staatsakt zur Feier des 75. Geburtstags des Grundgesetzes in Berlin. Die Demokratie gerate "unter Druck", es erstarkten "Kräfte, die sie schwächen, die sie aushöhlen wollen". Sie sei nicht auf ewig garantiert, mahnte Steinmeier. "Schützen müssen wir sie selbst. Auf uns und jeden von uns kommt es an."

An einem Festtag wie diesem mische sich Stolz auf das Grundgesetz mit Unbehagen, sagte Steinmeier weiter. In seiner Rede vor den Spitzen der Verfassungsorgane und Prominenten aus Politik und Gesellschaft ging er auf die Diskrepanz ein, dass die Verfassung die Menschenwürde garantiert, es im Alltag jedoch Antisemitismus, Hass auf Andersdenkende, Fake News, Angriffe auf Journalisten gebe und Frauen auf übelste Weise an den Pranger gestellt würden. Die Spannung zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit sei nicht zu übersehen. Folgen müsse daraus aber nicht ein kritischer Blick auf die Verfassung, sondern auf die Wirklichkeit.

Eine Geburtstagsfeier, fast wie ein Klassentreffen: Gerhard Schröder, Angela Merkel und Klaus Wedemeier, der frühere Bürgermeister von Bremen.
Eine Geburtstagsfeier, fast wie ein Klassentreffen: Gerhard Schröder, Angela Merkel und Klaus Wedemeier, der frühere Bürgermeister von Bremen. (Foto: Christian Marquatdt/Pool/Getty Images)

Der Bundespräsident äußerte sich angesichts gewalttätiger Angriffe auf Mandatsträger und politisch Engagierte "zutiefst besorgt über die Verrohung der politischen Umgangsformen in unserem Land". Bürger und Politiker müssten Hass, Menschenverachtung und Hetze gegen Minderheiten entgegentreten. "All das hat in einer Demokratie nichts zu suchen." Sie brauche zwar Wettbewerb und Streit, sie vertrage Zuspitzung und härteste Auseinandersetzung, so Steinmeier, aber: "Gewalt zerstört unsere Demokratie." Sie säe Angst und Misstrauen, entmutige und lasse Menschen verstummen. Man müsse deshalb Gewalt im politischen Meinungskampf mit aller Entschiedenheit ächten. "Unsere Demokratie ist wehrhaft", betonte Steinmeier. Doch das sei nicht genug.

Gefragt seien jetzt "Bürgerinnen und Bürger, die dem Gemeinwesen nicht gleichgültig gegenüberstehen. Die ihre Meinung sagten, aber "unterscheiden können zwischen berechtigter Kritik und dem Generalangriff auf unser politisches System".

Nach Jahrzehnten, in denen Wohlstand, Demokratie und Frieden gediehen, erlebe man mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine "einen epochalen Bruch". Mit Blick auf Gegenwart und Zukunft sagte der Bundespräsident: "Wir leben in einer Zeit der Bewährung. Es kommen raue, auch härtere Jahre auf uns zu." Gewissheiten seien weniger geworden, aber ein Rückzug von der Wirklichkeit sei keine Lösung. Es sei falsch, von einer "bequemeren Vergangenheit zu träumen" und "täglich den Untergang unseres Landes zu beschwören". Vielmehr müsse man sich mit Realismus und Ehrgeiz behaupten und die Werte verteidigen, "die uns im Kern ausmachen".

Für die Politik gehe es darum, Menschen zu erreichen und zu überzeugen, die keine Extremisten sind. Immer mehr Menschen hätten den Eindruck, nicht gehört und nicht verstanden zu werden. Es müssten überzeugende Antworten auf die wachsende Entfremdung zwischen Politik und Gesellschaft gefunden werden, sagte Steinmeier. Man müsse ihr den Boden entziehen. Die Politik mache häufig nicht verständlich, was sie tue oder nicht tue.

Steinmeier regte erneut eine Dienstpflicht an

Niemand wisse, so Steinmeier, wann der Machthunger von Russlands Präsident Wladimir Putin gestillt sei. Deutschland müsse deshalb mehr für die Sicherheit tun und in Verteidigung investieren. Der Bundespräsident und ehemalige Außenminister regte erneut eine Debatte über einen Wehrdienst und andere Dienste für das Gemeinwesen an. Militärische Sicherheit und gesellschaftliche Widerstandskraft gehörten zusammen, so Steinmeier.

Steinmeier sagte auch, das Land müsse sich auf mehr Verteilungsstreitigkeiten einstellen. Der Kampf um finanzielle Ressourcen werde härter werden angesichts riesiger Aufgaben, die etwa Klimawandel, soziale Sicherung und Wirtschaftskrisen stellten. Die nächsten Jahre würden insbesondere den politisch Verantwortlichen viel abverlangen, prophezeite der Bundespräsident. Er rief die demokratischen Parteien zur Zusammenarbeit auf, wo das gemeinsame Ganze bedroht sei. "Die Gemeinsamkeit der Demokraten - sie ist gefragt, wenn die Demokratie angefochten ist."

Die Verfassung bezeichnete Steinmeier zum Jubiläum als ein "Meisterwerk". Sie gehöre zum "Besten, was Deutschland hervorgebracht hat", und sei Vorbild für viele andere Verfassungen geworden. Deutschland feiere an diesem Tag des 75-jährigen Bestehens ein doppeltes Jubiläum, weil die friedliche Revolution in der DDR gleichzeitig 35 Jahre her sei. Dem Mut der dortigen Bürgerinnen und Bürger verdanke man es, dass das geteilte Land wieder eins sei. Deutschland sei zu einem Land zusammengewachsen, das mehr sei als die Summer zweier Teile.

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Für den Bundespräsidenten war es die vielleicht wichtigste Rede seiner zweiten Amtszeit. Er musste den spektakulären Erfolg des Grundgesetzes feiern und zugleich mahnen, dessen Errungenschaften nicht für selbstverständlich zu nehmen.

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