Menschenrechte:Bundespräsident Steinmeier warnt vor Memorial-Schließung

Menschenrechte: Das angekündigte Ende von Memorial (Bild) könne nicht "ohne scharfe Kritik" bleiben, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Das angekündigte Ende von Memorial (Bild) könne nicht "ohne scharfe Kritik" bleiben, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

(Foto: Alexander Nemenov/AFP)

"Fassungslos" zeigt sich der Bundespräsident angesichts der bevorstehenden Entscheidung in Moskau, die russische Menschenrechtsorganisation Memorial zu liquidieren.

Von Daniel Brössler, Berlin

Wenige Tage vor der angekündigten Entscheidung eines Moskauer Gerichts hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier scharf vor einer Zwangsschließung der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial gewarnt. "Die angedrohte Schließung einer angesehenen, hoch verdienstvollen Organisation wie Memorial durch offene Kriminalisierung ihrer wertvollen Versöhnungsarbeit und Forschung macht uns fassungslos", sagte Steinmeier am Montag bei einer Festveranstaltung zum 60-jährigen Jubiläum des Bergedorfer Gesprächskreises in Berlin. Die drohende Schließung könne nicht "ohne scharfe Kritik bleiben".

Das Gericht entscheidet an diesem Donnerstag auf Antrag der russischen Generalstaatsanwaltschaft, ob Memorial liquidiert wird. Vorgeworfen wird der Organisation, gegen diskriminierende Auflagen verstoßen zu haben, die sich aus der Einstufung als "ausländischer Agent" ergeben. Memorial war 1988 gegründet worden und hatte großen Anteil an der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen in der Sowjetunion. Die drohende Zwangsschließung gilt als Versuch des Kremls, einen kritischen Umgang mit der sowjetischen Geschichte zu unterbinden, und hat international Entrüstung ausgelöst. Insbesondere in Deutschland ist die Sorge groß.

Kritik auch von der künftigen Ampel-Koalition

So gaben in einem ungewöhnlichen Schritt Außenpolitiker von SPD, Grünen und FDP für die künftige Ampel-Koalition eine Erklärung ab, in der sie "entschieden gegen die drohende Zwangsauflösung der bekanntesten und international renommiertesten Menschenrechtsorganisation der Russischen Föderation" protestieren.

"Eine unabhängige, kritische und professionelle Aufarbeitung der Geschichte ist für die deutsch-russischen Beziehungen, gerade vor dem Hintergrund der von Deutschen gegen Menschen in der Sowjetunion begangenen Verbrechen, existenziell", heißt es in der Erklärung, die unter anderen von den Außenpolitikern Nils Schmid (SPD), Omid Nouripour (Grüne) und Alexander Graf Lambsdorff (FDP) unterzeichnet ist. Das "politisch motivierte" Vorgehen verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und die Charta von Paris. Die Einstufung als "ausländischer Agent" ziele auf die "Stigmatisierung und Delegitimierung" einer grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Zusammenarbeit.

Auch die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas protestierte gegen das Vorgehen. Seit Ende der 1980er-Jahre habe Memorial International "historische Arbeit von unschätzbarem Wert geleistet, insbesondere bei der Aufklärung stalinistischer und nationalsozialistischer Verbrechen". Die Organisation setze sich seit jeher aktiv für Menschenrechte und eine offene Gesellschaft ein. Man sei in Sorge um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und das "unschätzbare Archiv" von Memorial.

Der Druck auf Memorial hatte sich in den vergangenen Jahren im Zuge einer von Präsident Wladimir Putin vorgegebenen Geschichtspolitik verschärft, in der Kritik an stalinistischen Verbrechen oder auch am Hitler-Stalin-Pakt zunehmend verpönt ist. In einem ausführlichen Artikel hatte Putin vergangenes Jahr den Pakt verteidigt und stattdessen Polen eine Mitschuld am Beginn des Zweiten Weltkriegs gegeben.

Ungeachtet seiner Kritik am Vorgehen gegen Memorial warb Bundespräsident Steinmeier beim Festakt für den Bergedorfer Gesprächskreis dafür, den Dialog mit Ländern wie Russland nicht abreißen zu lassen. "Dialog ermöglicht Perspektivwechsel, Verstehen und die Vermeidung ungewollter Eskalation. Im besten Fall ermöglicht er Vertrauen", sagte er. Notwendig sei die Bereitschaft, "den eigenen Standpunkt nicht absolut zu setzen". Das falle allerdings schwer "angesichts vieler Konflikte und Kriege, angesichts von Menschenrechtsverletzungen und Repression." Im Bergedorfer Gesprächskreis diskutieren hochrangige internationale Politiker und Experten vertraulich über die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik.

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