Gedenken an Zweiten Weltkrieg:"Damit unser Bewusstsein nicht wieder verführt wird"

Italian President Sergio Mattarella and German President Frank-Walter Steinmeier shake hands during an event to commemorate the 75th anniversary of a massacre of Italian civilians carried out by the German Wehrmacht during World War II, in Fivizzano

Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella (r.) und der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

(Foto: REUTERS)
  • Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella erinnern im italienischen Fivizzano an ein SS-Massaker an Zivilisten im Jahr 1944.
  • Sie wollen an die Schrecken der Geschichte erinnern und zugleich auf die Lage in der Gegenwart aufmerksam machen.

Von Stefan Braun, Fivizzano

Und dann wird es doch schwer auf dem Dorfplatz von Fivizzano. So schwer, dass Frank-Walter Steinmeier Schmerz und Scham regelrecht anfallen. Seine Stimme wird brüchig; der Faden, an dem entlang er hier heute reden möchte, droht ihm für einen Moment abhanden zu kommen. Von einem "unendlich schweren Weg hierher" spricht Steinmeier. Von einem "unerträglichen Furor der Täter" und einer "unendlichen Scham", die er heute empfinde. Er erzählt, dass viele in Deutschland nach wie vor keine Ahnung hätten von den Gräueltaten, die hier begangen wurden. Und an die Menschen gerichtet, die sich zum besonderen Anlass auf dem Platz versammelt haben, fügt er hinzu: "Ich bitte sie um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier verübt haben."

Der Bundespräsident ist an diesem Sonntag ins Toskana-Städtchen Fivizzano gekommen, um Massakern zu gedenken, die deutsche Soldaten einer SS-Panzergrenadier-Division hier im August 1944 verübt haben. Binnen weniger Tage wurden damals Hunderte Menschen ermordet, darunter auch Frauen, Kinder und alte Menschen. Rache sollte es sein für die Attacken von Partisanen. Steinmeier nennt es eine "furchtbare, unmenschliche Rache", die "rauchende Trümmer und eine tiefe Blutspur" hinterlassen hätten.

Er hat sich vorgenommen, zu Ehren der Überlebenden hier auf Italienisch zu sprechen. Er hat die Rede wieder und wieder geübt und vorgesprochen. Und dann kann auch alle Übung nicht überdecken, dass der Auftritt hier schwer ist. Trotz des aufbrandenden Applauses, den er hier immer wieder erntet. Nein, man könne den Hass nicht verstehen, der die deutschen Täter getrieben habe, sagt der Bundespräsident. Und nein, man könne "Vergebung und Versöhnung nicht verlangen". Umso dankbarer sei er, dass die Menschen hier "zur Versöhnung und zur Freundschaft bereit" seien.

Nun kann man so etwas natürlich in einen Redetext schreiben. In der Hoffnung, es möge wirklich irgendwann möglich werden. In Fivizzano aber bleibt das keine ins Manuskript gebaute Hoffnung. Es wird konkret. Durch den Beifall, den es hier so laut gibt, dass Steinmeiers gesamter Tross erstaunt ist. Noch mehr aber durch jene Begegnung, die seinem Auftritt voranging. Kurz vor seiner Rede konnte der Bundespräsident denen, die Versöhnung leben könnten, bei einer persönlichen Begegnung direkt ins Gesicht sehen. Eine alte Frau, ein alter Mann, beide über achtzig, haben ihm geschildert, wie die Massaker hier in der Gegend alle bis heute beschäftigen.

Luisa Chinca war 5 Jahre alt, als sie die eigene Mutter, vier Tanten und einen Cousin verlor; Andrea Quartieri war dreizehn, als seine Großeltern und zahlreiche Cousins von deutschen Soldaten ermordet wurden. Keine Familie, die nicht Opfer zu beklagen hätte; für niemanden hier ist die Mühe zur Versöhnung eine hohle Phrase gewesen. Alle haben Schmerzen, und das bis heute. Dies in den Augen der zwei alten Menschen studieren zu können, ist etwas ganz anderes als eine nüchterne Aufarbeitung von Geschichte.

Das beweist auch der Bürgermeister. Gianluigi Fiannetti berichtet von den "nazi-faschistischen Massakern, die unseren Boden mit Blut durchtränkt haben"; und er erzählt, wie sie sich in Fivizzano ihre eigene Erinnerungskultur erarbeitet haben, "als ständige Ermahnung, dass so etwas nie wieder stattfinden darf". Nicht viel anders klingt Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella, als er von der "Umnachtung des Gewissens" berichtet und von der "Gewalt und Willkür und Unterdrückung der Menschen".

Steinmeier erinnert an Europa und das Versprechen seiner Gründer

An die Schrecken der Geschichte zu erinnern, ist freilich nicht alles, was sich Mattarella und Steinmeier für diesen Tag vorgenommen haben. Insbesondere beim Italiener spürt man in fast jeder Zeile, dass das Heute ihn fast noch mehr umtreibt als das Gestern. Zu sehr hat sich die Lage in Europa verändert. Und noch mehr dürfte ihm die aktuelle Lage in Italien auf der Seele liegen. Plötzlich sind neue Nationalisten groß und immer größer geworden; mit einem Mal erscheint das Friedensprojekt namens Europa gefährdeter, als viele es für möglich gehalten hätten.

Mattarella nennt dabei keinen Namen und spricht erst recht nicht über seine Bemühungen, in Italien eine Koalition jenseits des Rechtspopulisten Matteo Salvini hinzubekommen. Mattarella erinnert an den Holocaust-Überlebenden Primo Levi und seine Botschaft: Es ist geschehen. Folglich kann es wieder geschehen. Die Aufgabe, die sich daraus ergibt, kann laut Mattarella nur eine sein: "zu verhindern, dass sich das noch einmal wiederholen kann."

Steinmeier denkt und fühlt nicht anders. Er erinnert an Europa und das Versprechen seiner Gründer: "Nie wieder Nationalismus, nie wieder Krieg, nie wieder Rassismus, Hetze und Gewalt." Wer will, kann auch das als direkte Botschaft an Salvini und die neue Rechte in Europa lesen. Falsch wäre diese Interpretation mitnichten. Um ihnen demonstrativ was entgegen zu setzen, haben sich Mattarella und Steinmeier schon zu Beginn des Jahres auf den Auftritt in Fivizzano verständigt. Steinmeier betont, dass die Verantwortung "keinen Schlussstrich kennt". Und er erklärt, was das für ihn bedeutet: "Wer um die Vergangenheit weiß, der wird besser gerüstet sein für eine gemeinsame europäische Zukunft. Wer aber vergisst, ist schwächer, wird anfälliger für Intoleranz und Gewalt."

Worüber an diesem Tag keiner reden mag, obwohl es doch an vielen Stellen mitschwingt, ist das Thema Reparationen. Im Verhältnis zum offiziellen Italien ist es kein Thema. Nicht mal der Deutschland-kritische Salvini hat es bislang größer aufgegriffen. Und weil das auch so bleiben soll, hat sich Steinmeier vorgenommen, mit Besuchen wie in Fivizzano immer wieder an die eigene Verantwortung zu erinnern.

Zumal bis heute längst nicht alles gut gelaufen ist in der Aufarbeitung dieses Teils deutscher Geschichte. Viele Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen; andere, die in Italien zwar zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, sind nie von Deutschland ausgeliefert worden. Selbst die Tatsache, dass der Kommandeur der SS-Täter von Fivizzano, Walter Reder, 34 Jahre in Italien in Haft saß, hat eine sehr bittere Note. Bevor er entlassen wurde, hatte er tiefe Reue bekundet. Kaum aber war er freigelassen und nach Österreich gekommen, erklärte er seine Reue für Null und nichtig. Was in Italien unermessliche Narben riss.

Angesichts dessen kann es allenfalls ein bisschen Trost sein, dass Einzelne sich umso mehr um eine Aufarbeitung bemüht haben. Einer davon ist Udo Sürer, ein Rechtsanwalt aus Lindau. Als er Anfang der 2000er Jahre erfahren hatte, dass sein Vater an den Massakern beteiligt gewesen war, machte er sich auf nach Fivizzano, um alles herauszufinden und offenzulegen. Wie er erzählt, erhielt er auf seine ersten Fragen nach Ankunft in Fivizzano eine Antwort: "Gut, dass sie da sind." Als die Menschen dort erlebten, wie ernst es ihm war mit der Aufdeckung der Taten, machten sie ihn 2005 zum Ehrenbürger. Als Steinmeier und Mattarella in Fivizzano ihre Kränze ablegen, zählt er zu den Ehrengästen.

Ob andere dem Beispiel Sürers noch folgen werden, weiß naturgemäß niemand zu sagen. Froh aber wären hier in Fivizzano darüber viele. "Wir dürfen nicht vergessen", mahnte Steinmeier zum Abschied. "Wir dürfen nicht vergessen, damit unser Bewusstsein nicht wieder verführt wird und sich verdunkelt." Und Mattarella ergänzte: "Nie wieder - das ist nicht nur eine verpflichtende Erinnerung, sondern auch ein Auftrag, Tag für Tag, in unserem täglichen Leben."

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