NS-Verbrechen„Diese Verantwortung kennt keinen Schlussstrich“

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (links) mit dem italienischen Präsidenten Sergio Mattarella in Marzabotto, nahe Bologna.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (links) mit dem italienischen Präsidenten Sergio Mattarella in Marzabotto, nahe Bologna. (Foto: Michele Nucci/AP)

Vor 80 Jahren ermordeten deutsche Truppen nahe des Ortes Marzabotto 771 Menschen. Männer, Frauen, Kinder. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält zum Jahrestag eine eindringliche Rede gegen Nationalismus und Rechtsextremismus.

Von Marc Beise, Rom

Die meiste Zeit der Nazi-Herrschaft in Deutschland war Italien ein treuer Verbündeter unter dem faschistischen Diktator Benito Mussolini, der schon deutlich länger als Adolf Hitler im Amt und diesem anfangs sogar ein Vorbild war. Diese Zeit war schrecklich genug für freiheitsliebende italienische Demokraten, aber nachdem die Italiener 1943 ihren Duce gestürzt hatten und in der Folge von den Deutschen besetzt wurden, begann ein ungleich düsteres Kapitel. In den beiden verbleibenden Jahren des Weltkriegs kam es zu zahlreichen Massakern an Zivilisten, und das grausamste aller Verbrechen begingen die deutsche Truppen am 29. September 1944 und den folgenden Tagen in der Nähe der Ortschaft Marzabotto im bergigen Gelände am Monte Sole bei Bologna, in Emilia-Romagna.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war am Sonntag zum 80. Jahrestag an den Ort des Verbrechens gereist, auch weil, wie er in seiner Rede vor Politikern, Historikern und Angehörigen und Nachfahren der Opfer sagte, die Orte Fivizzano, Fosse Ardeatine, Sant’Anna di Stazzema, Civitella und eben Marzabotto zwar im italienischen Gedächtnis eingeschrieben, aber in Deutschland bislang kaum bekannt seien.

„Fünf Tage in der Hölle“, sagt Steinmeier

Namentlich Marzabotto stehe für das Morden der NS-Truppen, die „in ihrem Hass und ihrer Verblendung unmenschliche Verbrechen verübt“ hätten, sagte der Bundespräsident, der mit seinem italienischen Amtskollegen aus Deutschland angereist war, wo sich Sergio Mattarella drei Tage lang zu einem Staatsbesuch aufgehalten hatte.

„Es war bestialisch“, sagte Steinmeier, „wie die deutschen Truppen, Mitglieder der 16. SS-Panzergrenadier-Division ,Reichsführer-SS’, hier wüteten. Unterstützt von der Wehrmacht, wollten sie Rache nehmen für den Widerstand der Partisanen der ,Stella Rossa’. Aber es ging ihnen um viel mehr als Rache. Es trieb sie der Wille zur Vernichtung. Die SS-Männer mordeten in jenen Tagen im Herbst 1944 wie in einem Blutrausch. Sie sperrten die Menschen in Häusern ein und warfen Handgranaten hinein. Brannten Ställe, Wohnhäuser, Kirchen, Kapellen nieder. Sie kannten kein Erbarmen, keine Menschlichkeit, nicht einmal für Frauen, Priester, betagte Männer. Und auch nicht für Kinder, so viele Kinder.“

Die Worte würden „klein an diesem Ort“, sagte Steinmeier: „Sie reichen nicht aus, um zu beschreiben, was hier am Monte Sole vor 80 Jahren geschehen ist. So viel Grausamkeit. So viel Qual. So viel Trauer. So viele Menschen, deren Leben hier ausgelöscht wurde.“ Fünf Tage sollte das Morden dauern, „fünf Tage in der Hölle“, wie Steinmeier sagte. Als die Deutschen weiterzogen, waren 771 Menschen tot. Darunter mehr als 300 Frauen und mehr als 200 Kinder, auch Säuglinge.

Die Verantwortung sei, sich zu erinnern

Der Bundespräsident bat im Namen Deutschlands um Vergebung. Die Opfer und die Nachfahren hätten ein Recht auf Erinnerung. „Die ganze Gegend hier am Monte Sole trägt bis heute tiefe, sichtbare Narben. Und ich weiß: Der Schmerz ist noch größer, weil die meisten Verbrechen nie gesühnt wurden. Das ist die zweite Schuld, die wir Deutschen auf uns geladen haben.“

Sich zu erinnern, damit nicht wieder geschehe, was einmal geschehen sei, sei die Verantwortung vor der Geschichte, gerade für Deutsche. „Und diese Verantwortung kennt keinen Schlussstrich“, sagte Steinmeier. „Europa hat nur dann eine friedliche Zukunft, wenn wir Deutschen diese Verantwortung vor der Geschichte niemals vergessen und sie verteidigen.“

Daran wolle er auch deshalb ganz bewusst erinnern, „weil wir in einer Zeit leben, in der auch in meinem Land nationalistische und rechtsextremistische Kräfte erstarken. Kräfte, die die Demokratie schwächen oder aushöhlen wollen – ausgerechnet in meinem Land. Mich sorgt das. Aber es macht mich auch entschlossen. Unsere Verantwortung ist heute wieder größer als in vielen Jahren zuvor: einzutreten und zu kämpfen für die Werte, auf denen unser geeintes Europa, unsere Demokratien gründen.“

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