Heute soll alles passen. Einfach alles. Und so kommt es, dass am frühen Morgen im grün wuchernden Garten des Amtssitzes von Reuven Rivlin viel los ist. Zwischen Olivenbäumen und Palmen üben junge Frauen und Männer der israelischen Armee das Salutieren; eine kleine Heerschar an Gärtnern zupft Vertrocknetes aus den Büschen. Dazu ist da noch der Herrscher über den Staubsauger. Dreimal bringt der Mann elektrisches Großgerät zum Einsatz, um den roten Teppich leuchten zu lassen. Und als er kurz vor der Begrüßung Angst bekommt, er könnte nicht alles erwischt haben, eilt er mit dem Handsauger noch einmal über den Teppich.
Dann kommt die Musikkapelle; sie muss sich einspielen. Wobei: Was heißt einspielen. Sie übt die deutsche Nationalhymne, und sie spielt großartig. Wer das schon ein paar Mal in anderen Ländern erlebt hat, weiß, wie krumm die Töne sein können. Hier aber spielen sie perfekt. Einmal, noch mal, dann ein drittes Mal. Und als es sich ein viertes Mal wiederholt, stellt sich die Frage: Was ist heute los hier?
Israels Staatspräsident hat zum Finale geladen. In wenigen Tagen wird er seinen Amtssitz räumen, heute will er einen letzten Besucher begrüßen: Frank-Walter Steinmeier, seinen Kollegen aus Deutschland. Und so soll alles perfekt sein.
Vor vier Jahren haben sie sich beim Gang über einen israelischen Gemüsemarkt das erste Mal getroffen; vier Jahre später sind sie mehr als nur politische Freunde geworden. Zigmal telefoniert, auch in Pandemiezeiten, dazu mehrere Begegnungen. Und dann auch noch dieser besondere Ausflug vor anderthalb Jahren, als Steinmeier auf einer Holocaust-Konferenz in Yad Vashem sprechen durfte und dann Rivlin mit ihm zusammen Auschwitz besucht hat. "Ein enger, ein echter, ein wunderbarer Freund", nennt Rivlin Steinmeier. Und der antwortet: "Es war eine Freude, dich kennenlernen zu dürfen. Ich danke dir aus tiefstem Herzen."
Nun mag das zur Pflege der heiklen Beziehungen zwischen beiden Staaten auch ein bisschen inszeniert sein. Aber wer die beiden über die Jahre hinweg beobachtet hat, wer gesehen hat, wie sie aufeinander eingehen, sich am Arm fassen, Gesten der Nähe suchen und setzen, der ahnt doch, dass mit dem Abschied von Rivlin eine besondere Etappe endet. Vor allem der Weg, den der Israeli dafür zurückgelegt hat, ist ein besonders weiter gewesen.
Rivlin war einst gegen diplomatische Beziehungen
Als junger Mann nämlich, daran erinnert der scheidende Präsident, habe er auf den Straßen Jerusalems vehement gegen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Deutschland gekämpft. Dass ausgerechnet er (wie im Januar 2020 geschehen) mit Steinmeier in einem Flugzeug der deutschen Luftwaffe von Auschwitz nach Berlin fliegen würde - das hätte er damals für absolut unmöglich gehalten.
Wehmut allein freilich soll die Abschiedstour nicht dominieren. In zweieinhalb Tagen messen die beiden Präsidenten noch mal die ganze Geschichte Israels ab. Auf dem Herzlberg in Jerusalem erinnern sie an den Vordenker des zionistischen Staates, Theodor Herzl. Dazu legt Steinmeier an dessen Grab einen Kranz nieder. Anschließend besuchen sie die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und lassen sich dieses Mal die Mühen beim Erhalt geretteter Tagebücher erklären. Und zum Abschluss setzen sie sich in einen Hubschrauber.
Von Jerusalem aus geht es erst Richtung Küste, dann tief in den Süden, in die Negev-Wüste. Dorthin, wo Staatsgründer David Ben- Gurion lebte. Und wo heute Forscherinnen und Wissenschaftler den Umgang mit Wasser und Sonne untersuchen. Vergangenheit und Zukunft begegnen sich da auf wenigen Metern. Ohne Wasser hätte der jüdische Staat nie überleben können; ohne die Energie aus der Sonne wird es kaum eine Zukunft geben.
Und so fallen Rivlin und Steinmeier für einen Moment ins Hier und Heute. Mit großen Augen lassen sie sich von einer Berliner Masterstudentin erklären, wie sie untersucht, was mit dem Mikroplastik in Flüssen passiert. Eine Solarexpertin aus Israel zeigt, wie man die Kraft der Sonne hundertfach bündeln und so um ein Vielfaches mehr Effizienz bei der Energiegewinnung erzeugen kann. Und ein Agrarexperte aus Südtirol demonstriert, was er über den Weinanbau in der Wüste alles herausfinden kann. Wissenschaft im Minutentakt, mitten in der Wüste. Israel, wie es auch ist.
Am Ende ein letztes Foto, Arm in Arm, vor großer Wüstenkulisse. Dann macht sich Steinmeier auf den Heimweg. Und könnte mit dem Gefühl nach Hause fahren, dass zwar der Freund geht, aber für ihn alles so bleibt, wie es ist.
Voller Staunen über all das "Neue"
Wären da nicht die anderen Gespräche gewesen. Zwischendurch, aber eindrücklich. Mit Premierminister Naftali Bennett vor allem, und mit Außenminister Jair Lapid, dem eigentlichen Architekten der neuen Regierung. Anschließend hat Steinmeier von all dem "Neuen" berichtet, das sich da ausgebreitet habe. Er erzählt voller Staunen, dass es Bennett und Lapid ernst sei mit dem Ziel durchzuhalten. Und sagt sichtlich angetan, dass man die Leidenschaft spüren könne, mit der sie für Israel ein neues Kapitel öffnen und alte Gräben zuschütten möchten.
Je länger er so redet, desto deutlicher macht sich das Gefühl breit, dass nicht nur sein Freund aufhört, sondern die Welt sich auch sonst verändert. So rasant tut sie das, dass daneben plötzlich auch er selbst wie ein Mann aus einer vergangenen Zeit aussieht.
Nur kurz, nur so ein Hauch. Einen Augenblick lang. Außerdem hat er ja mit Verve erklärt, dass er eine zweite Amtszeit anstrebt und also noch einmal antreten wird. Da soll kein Zweifel stören. Abschied? Das könnte ja wehtun.