Dass dieser Besuch kein einfacher ist, zeigt schon die Reiseroute. Frank-Walter Steinmeier ist am Montag zu seinem ersten Besuch als Bundespräsident nach Ungarn geflogen. Bei derlei Gelegenheiten schaut man normalerweise in der Hauptstadt vorbei. Doch Steinmeiers Airbus landet nicht in Budapest, sondern weit weg auf dem Luftwaffenstützpunkt Pápa. Hier gibt es zwar keinen roten Teppich – aber auch keinen Viktor Orbán.
Steinmeier ist schon seit mehr als sieben Jahren Bundespräsident. In dieser Funktion hat er inzwischen alle EU-Staaten besucht – nur Ungarn fehlte noch auf der Liste. Das lag vor allem an Orbán. Der ungarische Ministerpräsident ist nicht nur der dienstälteste Regierungschef innerhalb der Europäischen Union, er ist für viele auch der schwierigste.
Rechtspopulist Orbán pflegt trotz Russlands Krieg den Kontakt zu Putin
Das Ungarn von Viktor Orbán muss sich regelmäßig wegen Verstößen gegen das EU-Recht vor dem Europäischen Gerichtshof verantworten. Außerdem pflegt der Rechtspopulist trotz des russischen Kriegs gegen die Ukraine gute Beziehungen zu Wladimir Putin. Anfang Juli hat Ungarn turnusmäßig die Ratspräsidentschaft der EU übernommen. Kurz darauf ist Orbán zu einer unabgesprochenen „Friedensmission“ nach Moskau und Peking aufgebrochen. In Brüssel war das Entsetzen groß. Und gerade streiten die EU und Orbán über ungarische Sonder-Einreiseregeln für Gastarbeiter aus Russland und Belarus. In Brüssel befürchten sie, dass russische Agenten die Regeln ausnutzen könnten.
Es gäbe also viele wichtige Themen, über die Steinmeier und Orbán reden könnten. Doch der Bundespräsident habe sich bewusst entschieden, nicht die aktuelle Politik und den Streit in den Mittelpunkt seiner Reise zu stellen, heißt es im Schloss Bellevue. Im Bundespräsidialamt haben sie deshalb einen eleganten Weg gefunden, Ungarn zu besuchen, ohne Budapest und Orbán zu besuchen.
Gedenken an das „Paneuropäische Picknick“
Vor genau 35 Jahren, am 19. August 1989, fand an der ungarisch-österreichischen Grenze das sogenannte Paneuropäische Picknick statt. Dabei wurde mit Billigung der Behörden für einige Stunden die Grenze geöffnet. Es sollte nur ein symbolischer Akt sein. Aber mehr als 600 DDR-Bürger nutzten die Gelegenheit zur Flucht in den Westen. Es war der erste Riss im Eisernen Vorhang und ein Meilenstein auf dem Weg zum Mauerfall.
Vom Luftwaffenstützpunkt Pápa fährt Steinmeier deshalb nach Sopron an die ungarisch-österreichische Grenze – hier fand das „Paneuropäische Picknick“ statt. Und der Bundespräsident hat dabei zwei Botschaften im Gepäck. Dank an die Ungarn für ihren Mut und die Unterstützung der Freiheitsliebe damals. Aber auch die Erinnerung an die Sehnsucht nach Demokratie und Freiheit in einem vereinten Europa, die 1989 so viele angetrieben hat.
Steinmeier hat deshalb Zeitzeugen in seinem Tross. Zum Beispiel Walter und Simone Sobel aus Blankenburg im Harz, die an jenem 19. August 1989 mit ihren beiden kleinen Töchtern – sie waren damals zwei und vier Jahre alt – über die Grenze bei Sopron nach Österreich flohen. Simone Sobel kam aus einer parteitreuen Familie und wollte die DDR eigentlich nicht verlassen, entschied sich jedoch aus Liebe zu ihrem Mann dafür, den der Gedanke an eine Flucht schon lange umgetrieben hatte.
Steinmeiers Besuch ist eine Art Gegenprogramm zum EU-kritischen Orbán. Und es ist der Versuch, in Ungarn an Orbán vorbei für Europa zu werben. Steinmeier setzt auf Umfragen, laut denen trotz der EU-kritischen Rhetorik Orbáns eine Mehrheit der Ungarn Europa und die EU positiv bewerten.
Sopron als ein Symbol für europäische Solidarität
Formaler Counterpart des Bundespräsidenten ist zwar Ungarns Präsident Tamás Sulyok und nicht der Regierungschef – Sulyok begleitet Steinmeier am Montag auch. Aber der Umgang Steinmeiers mit Orbán erinnert doch ein bisschen an den mit Donald Trump. 2018 reiste der Bundespräsident zwar in die USA. Er mied jedoch die Hauptstadt, flog stattdessen nach Kalifornien – und machte damit einen Bogen um den damaligen US-Präsidenten.
Jetzt steht Steinmeier aber da, wo sich 1989 der Eiserne Vorhang das erste Mal öffnete. „Was hier an der Grenze zu Österreich seinen Anfang nahm, ging Hand in Hand mit den gesellschaftlichen Umbrüchen Ungarns“, sagt der Bundespräsident. „Ungarn öffnete sich gen Westen, trat IWF und Weltbank bei, später der Genfer Flüchtlingskonvention, und schon seit Januar 1988 konnten Ungarinnen und Ungarn dank eines ‚Weltpasses‘ frei reisen.“
Das Streben der Ungarinnen und Ungarn nach Freiheit und Demokratie habe den ganzen Kontinent elektrisiert, sagt Steinmeier. Deutschland verdanke seine Einheit „auch der Freiheitsliebe der Ungarinnen und Ungarn und ihrer Leidenschaft für Europa – wir brauchen diese Leidenschaft für Europa auch heute“. Sopron sei ein Symbol für europäische Solidarität, Freiheit und Einheit – und gegen Abschottung, sagt der Bundespräsident. Und den meisten ist klar, an wen diese Botschaft auch gerichtet ist: an Viktor Orbán in Budapest.