Die Schülerinnen haben viele Fragen an den Bundespräsidenten. Ob er sich manchmal wie ein König fühle, wie viele Häuser er habe, ob er noch unerkannt durch die Straßen laufen könne und wie Schnee überhaupt schmecke? Eine Frage, die in Ägyptens Hauptstadt, die sich seit Monaten in einem Um-die-Vierzig-Grad-Delirium befindet, besondere Dringlichkeit hat. Macht nicht satt, sagt Frank-Walter Steinmeier, was die Schülerinnen der zweiten Klasse der Deutschen Schule der Borromäerinnen in ihrem bunten Klassenzimmer in Kairo womöglich beruhigt.
Am Dienstagabend war Steinmeier in Ägypten angekommen, wo sich fast ein Vierteljahrhundert kein deutscher Bundespräsident hatte blicken lassen, trotz der guten Beziehungen, die beide Seiten immer wieder betonen. Die Beziehungen bestehen unter anderem darin, dass Deutschland Millionen Touristen an die Strände des Roten Meeres schickt und der Regierung von Präsident Abdel Fattah al-Sisi für Milliarden Waffen Euro verkauft.
In Ägypten gilt Deutschland vielen Menschen als Sehnsuchtsort
Für viele Ägypter ist Deutschland auch viel mehr, ein innerer Sehnsuchtsort, ein Land, in dem vieles funktioniert, in dem man durch Lernen und Leistung etwas erreichen kann. Und nicht zuletzt: ein Land, das Prinzipien und moralische Grundsätze hat, die Menschenrechte achtet. So zumindest wirkte es aus der Ferne. Auch deshalb schicken so viele Ägypter ihre Kinder auf deutsche Schulen, obwohl sie keinen direkten Bezug zu Deutschland haben: 400 000 lernen die Sprache.
Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und Deutschlands uneingeschränkter Unterstützung für Israels Gegenschlag, der mittlerweile zu einem brutalen Krieg gegen die Zivilbevölkerung geworden ist, hat das Deutschlandbild aber Risse bekommen. Bei den Kindern in der Deutschen Schule, die Steinmeier besucht, und in ganz Ägypten auch. Darüber hätte man sprechen können, am ersten Tag des Besuchs.
Die Schülerinnen der zwölften Klasse sitzen am Mittwochmorgen auf der Dachterrasse der Schule der Borromäerinnen, die vor 120 Jahren als Schule für die Kinder deutscher Hafenarbeiter in Alexandria gegründet wurde. Es war eine Zeit, in der die Migrationsströme auch noch in die umgekehrte Richtung liefen. Fast alle Schülerinnen sind Ägypterinnen, die auch mit dem Ziel kommen, später nach Deutschland zu gehen. Die aus ihrer Sicht einseitige Haltung Deutschlands zum Gaza-Krieg hat aber Zweifel in ihnen wachsen lassen, in den Klassen wurde viel diskutiert.
Für die Fragen von Schülerinnen zum Krieg in Gaza hat Steinmeier keine Zeit
„Ich bin sehr enttäuscht. Und viele andere in der Schule auch. Deutschland steht zu sehr auf der Seite Israels und vergisst das Leid der Palästinenser“, sagte die Schülerin Khadija Noaman der SZ im Frühjahr. Heute sitzt sie Steinmeier auf der Dachterrasse gegenüber und berichtet, dass sie bald in Bonn studieren möchte. Geografie, weil sie sich für Nachhaltigkeit interessiere. Der Bundespräsident nickt, fragt Studieninteressen ab. Auch zu Gaza hatten die Schüler Fragen vorbereitet, dafür fehlt dem Bundespräsidenten aber offenbar die Zeit, er wünscht zum Abschied alles Gute.
Schade findet das Khadija Noaman, sagt sie anschließend. Gut findet sie aber, dass Steinmeier gekommen sei, um sich mit Präsident Sisi über den Krieg in Gaza zu unterhalten, dort eine Lösung zu suchen. Der Weg in den Präsidentenpalast macht deutlich, warum Steinmeier schon die Achtjährigen fragten, wie es sich denn anfühle, ein ganzes Land zu regieren, so wie ein König.
Der ägyptische Sicherheitsstaat hat es fertiggebracht, die ganze Innenstadt von Autos und Fußgängern zu befreien. Tausende Polizisten stehen an den Straßenrändern, die Motorradpolizisten haben eine märchenhafte Uniform angelegt, die Militärkapelle spielt. Als ob der König käme, und nicht ein 68-jähriger Sozialdemokrat.
Einen König hatte Ägypten tatsächlich, der aber nie im Heliopolis-Palast regierte, der Anfang der 20. Jahrhunderts einmal als Luxushotel gebaut wurde und heute der Präsidentenpalast ist. In der großen Halle stehen am Mittwochmittag die beiden Staatspräsidenten und tragen einen kleinen Wettbewerb darin aus, wer die Beziehungen der beiden Länder noch weiter in den Himmel loben kann, was leicht zu Gunsten von Sisi ausgeht. Er findet Deutschland so gut, dass er die Zahl der deutschen Schulen von derzeit sieben auf einhundert erhöhen möchte.
Steinmeier sagt noch, er habe Vertreter der ägyptischen Zivilgesellschaft getroffen, denen er alles Gute wünscht, und fordert Frieden in Gaza. Sisi leistet sich zumindest einen kleinen Dissens und fordert Europa auf, stärker auf seinen „Partner“ einzuwirken, um zu einem Waffenstillstand zu kommen, womit er Israel meint. Wenn weiter Zivilisten sterben, so fügt der Präsident hinzu, hätte dies natürlich auch „Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der Menschenrechte“. Die haben Sisi bisher nie interessiert, jetzt nutzt er den Krieg in Gaza, um Europa vorzuwerfen, sie auch nur selektiv anzuwenden.
Ein anderes Wort, das oft fällt bei Steinmeiers Besuch, ist Krise. Die Krise in Gaza, in Jemen und im Sudan. Es gibt aber auch Gewinner, Präsident Sisi ist einer. Vor einem Jahr stand sein Land noch am Abgrund, tief verschuldet und verarmt, seit dem Oktober 2023 hat Ägypten eine wichtige Rolle als Vermittler zwischen den Kriegsparteien in Gaza, für die Steinmeier große „Dankbarkeit“ mitbringt. Sisi muss nicht über Menschenrechte oder Korruption sprechen, von der EU bis zu den arabischen Nachbarn sprudeln Milliarden an Finanzhilfen. Er steht in seinem riesigen Palast und lächelt, freut sich ein bisschen wie ein Schneekönig im Sommer.