Steinbrück gegen Merkel:Endlich Kanzlerkandidat

Peer Steinbrück nutzt eine Regierungserklärung der Kanzlerin zum EU-Gipfel für einen Frontalangriff auf Angela Merkel. Punkt um Punkt landet er, sehr zur Freude der eigenen Abgeordneten. Womöglich hat die SPD jetzt endlich einen Kanzlerkandidaten.

Von Thorsten Denkler, Berlin

Kristina Schröder (CDU) verteilt Lutschbonbons an ihre Kabinettskollegen Ilse Aigner (CSU) und Thomas de Maizière (CDU). Warum auch zuhören. Die Regierungserklärung ihrer Chefin zum vergangenen G-8-Gipfel in Nordirland und dem bevorstehenden Europäischen Rat in Brüssel plätschert in gewohnten Bahnen dahin. Kein Grund jedenfalls, auf Süßigkeiten zu verzichten.

Angela Merkel spricht da gerade über die Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Sechs Milliarden Euro wollen die EU-Staaten bis 2020 ausgeben, um sie zu bekämpfen. Den Sachverstand der bundeseigenen Kreditanstalt für Wiederaufbau will sie nutzen, Mittel aus Strukturfonds einsetzen, das Ziel einer Jugendbeschäftigungsgarantie unterstützen. Klingt alles so gut wie harmlos.

Ihr schräg gegenüber sitzt Peer Steinbrück, der bisher recht glücklose Kanzlerkandidat der SPD, reibt sich die Augen und streicht seine Krawatte glatt. Er wird gleich auf Merkels Regierungserklärung antworten. Es ist das letzte Aufeinandertreffen von Kanzlerin und Kandidat im Bundestag vor der Sommerpause. Eine Art Duell. Und Steinbrücks Chance, mal einer großen Öffentlichkeit zu zeigen, was er drauf hat - oder eben auch nicht.

Merkels Vorlage kommt ihm da wie gelegen. Die demonstrative Unaufgeregtheit Merkels noch zu unterbieten wäre kaum möglich gewesen. Kurz spricht sie den Syrienkonflikt an und das "unerträgliche Leid" der Flüchtlinge und Bürgerkriegsopfer. Den Wunsch, diesem Treiben ein Ende zu setzen habe sicherlich jeder, sagt sie. "Jeder, der ein Herz hat."

Steinbrück nimmt Merkel auseinander

Politik mit Herz, das wäre ein geradezu sensationell neuer Zug an Merkel. Der Schlussapplaus für die Kanzlerin ist lang und klingt pflichtschuldig. Begeistern muss sie offenbar nicht mal mehr die eigenen Leute.

Dann tritt Steinbrück ans Pult. Er erinnert an eine Antwort des Sozialdemokraten Fritz Erler auf eine Rede des Bundeskanzlers Ludwig Erhard von der CDU: "Die Rede des Herrn Bundeskanzler war reziplikativ", habe der gesagt. Ein Raunen geht durch den Bundestag. Reziplikativ. Ein Wort, das von Steinbrück hätte stammen können, der andere gerne seine intellektuelle Überlegenheit spüren lässt. Steinbrück weiß um diese Erwartungshaltung, und bevor sich jetzt alle fragen, was reziplikativ bedeute, zitiert er weiter Erler. Der habe damals gesagt: "Das heißt gar nichts. Es spricht sich nur so gut."

Steinbrück hat einen Scherz auf eigene Kosten gemacht, den jeder verstanden hat. Und zugleich die Kanzlerin getroffen. Gelächter im Plenarsaal. Den Einstieg hat Steinbrück unfallfrei überstanden. Manche Genossen nehmen schon das erleichtert zur Kenntnis. Steinbrück frotzelt weiter. Er habe den Eindruck, diese Regierungserklärung schon "drei, vier Mal gehört" zu haben. Das sei wohl auch der Grund "warum die Hälfte der Regierungsbank überwältigt sei. Und zwar vom Schlafbedürfnis." Ihm habe in Merkels Rede noch der Satz gefehlt, "eine gute Grundlage ist die beste Voraussetzung für eine gute Basis in Europa". Seine Leute sind schon jetzt begeistert. Die Grünen klatschen freudig mit. Derart gut gelaunt haben auch sie Steinbrück lange nicht erlebt.

Der Kandidat seziert Merkels wenige konkrete Ansagen. In Europa seien 26 Millionen Menschen arbeitslos. Davon sechs Millionen junge Menschen. In zwölf EU-Ländern läge die Jugendarbeitslosigkeit heute bei mehr als 50 Prozent. Merkels sechs Milliarden Euro bis 2020 seien da nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Peer Steinbrück geht die Kanzlerin jetzt direkt an: Die hohe Jugendarbeitslosigkeit sei eine "direkte Folge der einseitigen Sparpolitik, die Sie maßgeblich in Europa betrieben haben".

Steinbrück ist gewitzt und schlagfertig

Sein Vorschlag: 20 Milliarden Euro in den kommenden zwei Jahren. Und deutsche Unternehmen sollten sich "bindend verpflichten", Ausbildungsplätze in den mediterranen Ländern zu schaffen. Außerdem fordert er ein Wachstumsprogramm für Europa statt nur "bienenfleißig" Sparprogramme zu entwickeln.

Er hält Merkel andererseits nicht finanzierte Wahlgeschenke in einer Größenordnung von 50 Milliarden Euro vor. Da frage er sich, wie sie das den Griechen oder Portugiesen erklären wolle. Hier habe sie "die Spendierhosen an", während in diesen Länder Merkels Spardoktrin durchgesetzt werde.

In Merkels Rede kam nur einmal so etwas wie Stimmung auf. Als sie sich brüstet, die Staatsfinanzen in Ordnung gebracht zu haben, schallt ihr Hohn und Spott von SPD und Grünen entgegen. "Wer das nicht glaubt, der muss doch nur auf die Bilanz der Bundesregierung der letzten vier Jahre schauen!", gibt sie zurück. Union und FDP hätten den Schuldenberg gestoppt und Familien und Unternehmen entlastet. "Wir können das."

Union und FDP werden unruhig

SPD-Finanzexperte Joachim Poß lacht sich schlapp. Warum, erklärt später Steinbrück. Trotz sprudelnder Steuereinnahmen, trotz historisch niedriger Zinsen habe diese Bundesregierung in den vergangenen vier Jahren 100 Milliarden Euro neue Schulden gemacht. Die gesamtstaatliche Verschuldung sei um 400 Milliarden Euro gestiegen.

Unruhe in den Fraktionen von Union und FDP. Steinbrück nutzt das. "Da werden Sie noch nervöser. Das würde mich freuen. Dann hätte ich Treffer gelandet", ätzt er. "Der Punkt ist einfach: Sie können nicht mit Geld umgehen. Wenn Sie in der Wüste regieren, wird der Sand knapp. So ist das." Das Gejohle der Regierungsfraktionen kommentiert er knapp: "Mein Gott, Sie leben doch von der Rendite, die wir erwirtschaftet haben."

Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte die SPD endlich den langersehnten Kanzlerkandidaten in Steinbrück gefunden haben. Steinbrück führt die Kanzlerin vor, ohne persönlich zu werden. Er ist gewitzt und schlagfertig. Und verzichtet auf seine oft oberlehrerhafte Attitüde.

Erstaunlich, wie still es im Saal wird, als er Merkel mangelndes Geschichtsbewusstsein unterstellt. Steinbrück erinnert an die Anfänge der Europäischen Union. Frankreich habe sechs Jahre nach dem Krieg gegen erheblichen Widerstand der eigenen Bevölkerung über die Montanunion Souveränitätsrechte an Deutschland abgegeben. "Das war Führung, Frau Merkel." Und: "Ihnen fehlt das historische Bewusstsein dieser Zeit." Und: "Das Erbe von Helmut Kohl ist bei Ihnen nicht gut aufgehoben."

In der Union regt sich kein Widerstand. Steinbrück hat wohl mitten ins Schwarze getroffen. Wenn er so weitermacht, könnte er doch noch ein unangenehmer Gegner für Merkel werden.

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