Stefan Sell zu früher Förderung:"In vielen Krippen herrschen hanebüchene Zustände"

Kitas Agenda 2017

Mängel bei der Betreuung: Der rasche Krippenausbau schafft neue Probleme.

(Foto: dpa)

Zentrale Probleme in der Kinderbetreuung werden durch den schnellen Krippenausbau noch verschärft: Sozialwissenschaftler Stefan Sell über den Erziehermangel und die Gefahr, dass die Politik lieber die nächste Sau durchs Dorf treibt statt endlich die Qualitätsdefizite in den Kitas zu beseitigen.

Von Barbara Galaktionow

Gelingt der Krippenausbau? Diese Frage spielte in der vergangenen Legislaturperiode eine zentrale Rolle. Von Familienministerin Kristina Schröder wurde sie mit einem klaren Ja beantwortet. Sozialwissenschaftler Stefan Sell zweifelt dagegen noch immer am "Betreuungsplatzwunder" (die Gründe dafür hier). Doch auch er bestätigt, dass viele Kommunen vor dem Inkrafttreten des Rechtsanspruchs einen enormen Kraftakt vollbracht haben. Im Interview erläutert der Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der Fachhochschule Koblenz, woran es in Krippen und Kindergärten vor allem mangelt - und warum es so schwierig ist, die Probleme zu lösen.

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SZ.de: Herr Sell, auf Druck und mit Unterstützung des Bundes haben die Kommunen in den vergangenen Jahren rasch neue Betreuungsplätze für Kleinkinder geschaffen. Warum sind damit die Probleme nicht gelöst?

Stefan Sell: Viele Kommunen haben hier einen Riesenkraftakt vollbracht. Vor allem in Großstädten reicht die Zahl der Betreuungsplätze aber trotzdem meist nicht, der Bedarf ist hier noch sehr viel größer als die Zielvorgabe einer Betreuungquote von 39 Prozent. Unter dem Druck des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Kleinkinder wurden zudem nicht immer wirklich neue Plätze geschaffen, sondern manchmal auch einfach bestehende Plätze für Kinder über drei Jahren umgewandelt in Plätze für jüngere Kinder. Aus zwei Plätzen wurde so wegen des unterschiedlichen Personalbedarfs ein Platz - eine hoch problematische Entwicklung mit Blick auf die Zukunft. Einmal besetzt, sind viele Plätze dann zudem meist auf Jahre hinaus blockiert. Teilweise haben Eltern mit älteren Kindern jetzt erhebliche Schwierigkeiten, einen Platz zu finden.

Problematisch ist aber noch etwas ganz anderes. Eine geradezu logische Konsequenz aus dem schnellen Betreuungsplatz-Ausbau ist, dass nicht immer qualitativ hochwertige Plätze geschaffen wurden. Es wurde genommen, was zu kriegen war. Die Folge sind oft unpassende räumliche Gegebenheiten und katastrophale Personalschlüssel. Gerade in den Städten findet man gar keine geeigneten Räume mehr mit adäquater Größe oder einem Außengelände zum Spielen. Noch schlimmer ist, dass die Personaldecke oft extrem eng ist. Ausfälle durch Krankheit oder Urlaub führen dann dazu, dass manchmal nur eine Person eine ganze Gruppe betreut - was eigentlich überhaupt nicht zulässig ist. Im Grunde müssten die Kinder nach Hause geschickt werden. In vielen Krippen herrschen derzeit hanebüchene Zustände aufgrund der miesen Rahmenbedingungen.

Der Erziehermangel ist an vielen Orten ein massives Problem. Krippen, aber auch Kindergärten und Horte suchen oft händeringend nach qualifiziertem Personal. Ist Besserung in Sicht?

Die Fachkräftesituation ist nicht schnell lösbar, denn die Ausbildung dauert sehr lange, in Rheinland-Pfalz beispielsweise fünf Jahre. Obwohl der Krippenausbau die Situation weiter verschärft, ist von politischer Seite in der letzten Zeit trotzdem kaum mehr etwas unternommen worden. Die Länder, die für die Fachschulen zuständig sind, bauen definitiv immer noch viel zu wenig aus.

Das Problem liegt also nicht in der mangelnden Zahl an Interessenten, wie oft behauptet wird, sondern an fehlenden Ausbildungsplätzen?

Rein quantitativ gibt es deutlich mehr Bewerber als Plätze, denn es hat sich ja herumgesprochen, dass in diesem Bereich dringend Leute gesucht werden. Aus qualitativer Sicht kommt es aber nicht nur auf die Zahl der Bewerber an, sondern auch auf die Eignung. Die Rahmenbedingungen in den Kindertagesstätten haben sich in den vergangenen Jahren verschlechtert: Es gibt weniger Personal, längere Öffnungszeiten, mehr Kinder mit Förderbedarf, zugleich sollen auch noch Bildungspläne umgesetzt werden. Wirklich gute Leute entscheiden sich deshalb oft für andere Berufe.

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