Gelingt der Krippenausbau? Diese Frage spielte in der vergangenen Legislaturperiode eine zentrale Rolle. Von Familienministerin Kristina Schröder wurde sie mit einem klaren Ja beantwortet. Sozialwissenschaftler Stefan Sell zweifelt dagegen noch immer am "Betreuungsplatzwunder" (die Gründe dafür hier). Doch auch er bestätigt, dass viele Kommunen vor dem Inkrafttreten des Rechtsanspruchs einen enormen Kraftakt vollbracht haben. Im Interview erläutert der Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der Fachhochschule Koblenz, woran es in Krippen und Kindergärten vor allem mangelt - und warum es so schwierig ist, die Probleme zu lösen.
SZ.de: Herr Sell, auf Druck und mit Unterstützung des Bundes haben die Kommunen in den vergangenen Jahren rasch neue Betreuungsplätze für Kleinkinder geschaffen. Warum sind damit die Probleme nicht gelöst?
Stefan Sell: Viele Kommunen haben hier einen Riesenkraftakt vollbracht. Vor allem in Großstädten reicht die Zahl der Betreuungsplätze aber trotzdem meist nicht, der Bedarf ist hier noch sehr viel größer als die Zielvorgabe einer Betreuungquote von 39 Prozent. Unter dem Druck des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Kleinkinder wurden zudem nicht immer wirklich neue Plätze geschaffen, sondern manchmal auch einfach bestehende Plätze für Kinder über drei Jahren umgewandelt in Plätze für jüngere Kinder. Aus zwei Plätzen wurde so wegen des unterschiedlichen Personalbedarfs ein Platz - eine hoch problematische Entwicklung mit Blick auf die Zukunft. Einmal besetzt, sind viele Plätze dann zudem meist auf Jahre hinaus blockiert. Teilweise haben Eltern mit älteren Kindern jetzt erhebliche Schwierigkeiten, einen Platz zu finden.
Problematisch ist aber noch etwas ganz anderes. Eine geradezu logische Konsequenz aus dem schnellen Betreuungsplatz-Ausbau ist, dass nicht immer qualitativ hochwertige Plätze geschaffen wurden. Es wurde genommen, was zu kriegen war. Die Folge sind oft unpassende räumliche Gegebenheiten und katastrophale Personalschlüssel. Gerade in den Städten findet man gar keine geeigneten Räume mehr mit adäquater Größe oder einem Außengelände zum Spielen. Noch schlimmer ist, dass die Personaldecke oft extrem eng ist. Ausfälle durch Krankheit oder Urlaub führen dann dazu, dass manchmal nur eine Person eine ganze Gruppe betreut - was eigentlich überhaupt nicht zulässig ist. Im Grunde müssten die Kinder nach Hause geschickt werden. In vielen Krippen herrschen derzeit hanebüchene Zustände aufgrund der miesen Rahmenbedingungen.
Der Erziehermangel ist an vielen Orten ein massives Problem. Krippen, aber auch Kindergärten und Horte suchen oft händeringend nach qualifiziertem Personal. Ist Besserung in Sicht?
Die Fachkräftesituation ist nicht schnell lösbar, denn die Ausbildung dauert sehr lange, in Rheinland-Pfalz beispielsweise fünf Jahre. Obwohl der Krippenausbau die Situation weiter verschärft, ist von politischer Seite in der letzten Zeit trotzdem kaum mehr etwas unternommen worden. Die Länder, die für die Fachschulen zuständig sind, bauen definitiv immer noch viel zu wenig aus.
Das Problem liegt also nicht in der mangelnden Zahl an Interessenten, wie oft behauptet wird, sondern an fehlenden Ausbildungsplätzen?
Rein quantitativ gibt es deutlich mehr Bewerber als Plätze, denn es hat sich ja herumgesprochen, dass in diesem Bereich dringend Leute gesucht werden. Aus qualitativer Sicht kommt es aber nicht nur auf die Zahl der Bewerber an, sondern auch auf die Eignung. Die Rahmenbedingungen in den Kindertagesstätten haben sich in den vergangenen Jahren verschlechtert: Es gibt weniger Personal, längere Öffnungszeiten, mehr Kinder mit Förderbedarf, zugleich sollen auch noch Bildungspläne umgesetzt werden. Wirklich gute Leute entscheiden sich deshalb oft für andere Berufe.
Um die Qualität von Krippen und Kindergärten zu verbessern, fordern Experten die Festlegung bundeseinheitlicher Standards. Was würde sich dadurch ändern?
Es gibt ein ganz grundlegendes Merkmal für Betreuungsqualität: den Personalschlüssel. Aus der Forschung wissen wir, dass dieser zwar keine hinreichende, aber doch eine notwendige Bedingung für gute Betreuung und Förderung von Kindern ist. Der Personalschlüssel, wie er derzeit auf Länderebene geregelt ist, entspringt jedoch keiner fachlichen Logik, sondern allein der Entwicklung in den jeweiligen Ländern und den finanziellen Verhältnissen dort.
Zum Vergleich: Dem Statistischen Bundesamt zufolge ist bei der Betreuung von Kindern zwischen null und drei Jahren - also im klassischen Krippenalter - in Bremen ein Erzieher oder eine Erzieherin im Durchschnitt für 3,2 Kinder zuständig, in Sachsen-Anhalt hingegen für 6,9 Kinder, also für mehr als doppelt so viele. Überhaupt sind die Betreuungsschlüssel im Osten bedenklich. So kümmert sich in Mecklenburg-Vorpommern ein Betreuer im Schnitt um 14,2 Kinder im Alter zwischen zwei und sechs Jahren. Und bei all diesen Werten ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass Erzieher krank werden, dass sie Urlaub nehmen oder, wie die Kita-Leiter, kaum direkt mit den Kindern zu tun haben.
Die Personalschlüssel entsprechen absolut nicht dem Stand der frühpädagogischen Fachdiskussion. Dort wird beispielsweise eine Fachkraft-Kind-Relation von eins zu maximal vier Kindern bei den unter dreijährigen Kindern gefordert - was aber bedeutet, dass der Personalschlüssel höher sein muss, denn die Fachkräfte können nur einen Teil der Arbeitszeit am und mit dem Kind arbeiten.
Sogar die gegenwärtig besten Werte sind aus Sicht von Experten zu niedrig. Viele Fünf- oder Sechsjährige stecken das irgendwie weg, aber Zweijährige - das wissen wir aus der Bindungsforschung - brauchen ein anderes Setting. In einem nationalen Qualitätsgesetz könnten hierfür Mindeststandards festgelegt werden, die sich zumindest am besten Wert in Deutschland orientieren müssten. Auch die Fachkraftquote könnte hier verbindlich geregelt werden, also die Zahl der pädagogischen Fachkräfte zur Zahl der weniger qualifizierten Betreuer.
Warum gibt es ein solches Gesetz noch nicht? Die scheidende Familienministerin Kristina Schröder hatte bundesweite Betreuungsstandards schon im Mai 2012 als Ziel ausgegeben, passiert ist seitdem aber praktisch nichts.
Schröder hätte etwas machen können, wenn das wirklich ihr Thema gewesen wäre. Da wäre aber viel Nachdruck notwendig gewesen. Verfassungsrechtlich gesehen kann der Bund den Ländern tatsächlich ein Qualitätsgesetz aufzwingen - denn die Kitas zählen zum Fürsorgebereich und nicht zum Bildungsbereich, der eindeutig Ländersache ist.
Doch wenn der Bund das macht, dann muss er auch Geld auf den Tisch legen. Er muss die zusätzlichen Kosten mitfinanzieren, die durch eine von ihm vorgeschriebene massive Aufstockung des Kita-Personals entstehen würden - und zwar dauerhaft, also eine anteilige Mitfinanzierung der Betriebskosten der Kitas. Denn die Kommunen, die bei den Krippen und Kindergärten die größte Last tragen, gehen jetzt schon in die Knie.
Politiker reden ja gerne über die Notwendigkeit frühkindlicher Bildung und früher Förderung. Wird sich die nächste Bundesregierung also trotz der finanziellen Last für mehr Kita-Qualität einsetzen?
Mit einer großen Koalition wären die Voraussetzungen eigentlich ideal, um die notwendigen Änderungen vorzunehmen. Trotzdem halte ich es für unwahrscheinlich, dass es zu einem bundesweit gültigen Qualitätsgesetz kommen wird, das seinen Namen verdient. Nachdem zum 1. August 2013 - angeblich - genügend Krippenplätze gemeldet wurden, scheint bei Union und SPD vielmehr der Eindruck zu herrschen, der Brandherd Kinderbetreuung sei doch gelöscht. Statt die Probleme zu lösen, die auch durch den schnellen Krippenplatz-Ausbau mitverursacht wurden, wollen die Parteien offenbar lieber die nächste Sau durchs Dorf treiben: den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz. Damit droht die Gefahr, dass wir im Kita-Bereich auf halbem Wege stecken bleiben.
Wie lässt sich das abwenden?
Möglich wäre, dass Eltern mehr Druck auf die Politik erzeugen. Doch die sind meist sehr fixiert auf den Schulbereich und bereit, im Kita-Bereich, in dem es noch keine Noten gibt, sehr viel zu schlucken. Auch die Wirtschaft hat "nur" ein Interesse an irgendeiner Betreuung - das ist übrigens ein Hauptübel der aktuellen Debatte: Die Reduzierung der Kindertageseinrichtungen und der Tagespflege auf ihre Betreuungsfunktionalität.
Krippen und Kindergärten sind aber auch Bildungseinrichtungen - doch diese Wahrnehmung wird auf Sonntagsreden reduziert. Wenn man Betreuung und frühkindliche Bildung gemeinsam ausbauen will, dann müssen wir die Unter- und Fehlfinanzierung der Kitas beseitigen.
Mein Vorschlag wäre, zugleich mit der Einführung eines Bundesqualitätsgesetzes ein Fonds-Modell zu vereinbaren, das die damit entstehenden Kosten abdeckt. Bei diesem Modell müssten sich dann auch endlich die an der Finanzierung beteiligen, die den größten in Geld messbaren Nutzen von der Kinderbetreuung haben. Das sind nämlich nicht die Kommunen, die bislang die Hauptlast tragen, sondern die Sozialversicherungen, der Bund und die Länder, die von mehr Steuer- und Beitragseinnahmen profitieren - und übrigens auch die Wirtschaft, die man an dem "Kita-Fonds" beteiligen könnte, wie das übrigens in Frankreich seit langem üblich ist mit der dortigen Familienkasse. Wenn man das machen würde, dann könnten wir in Sachen Kita-Qualität einen Sprung nach vorne machen.