Weihnachten:Mut zum Staunen

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An Weihnachten wird gestaunt, was das Zeug hält. Große Kinderaugen staunen im Angesicht von Tannenbaum und Kerzenschein oder wie hier über die jährliche Weihnachtsparade in Santiago in Chile. (Archivbild) (Foto: dpa)

Wer staunen können will, muss sich angreifbar machen, muss alle Gewissheiten über den Haufen werfen. Das Staunen ist der Feind der religiösen wie der politischen Fundamentalisten, weil es ihnen sagt: Es gibt mehr, als dein Weltbild glauben machen will.

Kommentar von Matthias Drobinski

An Weihnachten wird gestaunt, was das Zeug hält. Die Erzählung des Evangelisten Lukas kommt von einer unglaublichen Szene zur anderen: Ein Kind wird im Stall geboren zur Rettung der Welt - von einer Jungfrau. Engel erscheinen den schreckensstarren Hirten und verkünden den Frieden auf Erden; Weise aus dem Morgenland huldigen dem Säugling, und dessen Eltern stehen da und wissen nicht, was sie sagen sollen.

Das unbändige Staunen über das, was da rund um das Neugeborene geschieht, zieht sich als Faden durch die Legende des Lukas. Nur hat sich in den 150 Jahren, in denen Weihnachten zum weltweit erfolgreichsten, durch nichts zu stoppenden bürgerlichen Familienfest geworden ist, ein anderes, eigenes Weihnachtsstaunen entwickelt. Es ist heimelig und festtagsverträglich. Große Kinderaugen staunen im Angesicht von Tannenbaum und Kerzenschein; Erwachsene tun erstaunt beim Auspacken längst erwarteter Geschenke. Das Staunen ist dann Produkt eines kalkulierten Überraschungsmoments, eines angeblich unglaublichen Sonderangebots oder eines großkotzigen Events, das auf ein begeistertes "Boah ey" abzielt: Staune gefälligst!

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Kein Wunder, dass da die Coolness zunimmt, die den allgegenwärtigen Überwältigungsversuchen die Gleichgültigkeit entgegensetzt: Kennen wir alles, hatten wir schon; wie jener Mann, der schulterzuckend vor einem gigantischen Wasserfall steht und sagt: Wasser, das nach unten fällt - na und? Kein Wunder, dass da Selbstgenügsamkeit und Selbstgefälligkeit wachsen, die allem misstrauen, was den Bogen der eigenen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Meinungen sprengen könnte.

Doch wer nicht staunen kann, bleibt gefangen im eigenen Horizont. Für den griechischen Philosophen Platon war deshalb das Staunen der Anfang der Philosophie, des Nachdenkens darüber, was die Welt wirklich ist. Das Staunen steht am Anfang jeder Entdeckung: Sieh an, die Welt ist anders, als ich bis eben gerade gedacht habe - weiter, offener, vielfältiger, bunter, größer. "Wer sich nicht mehr wundern kann, ist seelisch bereits tot", sagte Albert Einstein. Zumindest leidet er unter Wirklichkeitsverkürzung; nur wer staunt, sich wundert und bewundert, für den kann der Wasserfall mehr sein als Wasser, das nach unten fällt. Staunen ist das "Tor zur Wirklichkeit", wie es der Theologe Josef Bill in seinem Buch übers Staunen formuliert.

Dieses Staunen ist ein Risiko. Wer staunt, steht erst einmal dumm da: mit aufgerissenen Augen, offenem Mund und hängenden Schultern, erstarrt. In diesem Moment sind alle seine Souveränität und Selbstsicherheit dahin. Das Wort Staunen kommt vom schweizerischen "stunen" und bedeutet: starr blicken, erstarren. Wer staunt, ist aus dem Gleichgewicht, hilflos gegenüber dem Unerhörten und unfähig, es in Worte zu fassen. Er ist ergriffen und irritiert vom Fremden, das da gerade auf ihn einstürzt. Uncooler geht es nicht. Der Staunende wird zum großäugigen Kind. Bei Erwachsenen ist das immer etwas peinlich.

Wer staunen können will, muss sich angreifbar machen

Anders aber ist der Panzer der Wirklichkeitsverkürzung nicht zu durchbrechen, der den Staunenslosen auf sich selbst reduziert. Wer staunen können will, muss sich angreifbar machen, sich treffen lassen, muss die Wahrheiten, die er mit sich durchs Leben führt, als vorletzte sehen lernen. Wer sich im Besitz der ewigen Wahrheit wähnt, ist so wenig staunensfähig wie jener, der sein Leben aufs Nächstliegende und Offensichtliche beschränkt. Staunen ist immer auch ungläubiges Staunen, das Gewissheiten über den Haufen wirft und alle ins Stottern bringt, die allzu genau wissen, wie das geht mit dem Glauben. Das Staunen ist der Feind der religiösen wie der politischen Fundamentalisten, weil es ihnen sagt: Es gibt mehr, als dein Weltbild glauben machen will.

Die Weihnachtsgeschichte ist auf dieses irritierende, unbändige Staunen hin angelegt, das die Konventionen sprengt und das Gewohnte durcheinanderwirft. Mit dem heimelig kitschigen Staunen vorm lichtglänzenden Tannenbaum hat es wenig zu tun. Die Hirten und Weisen, die Eltern des Kindes, staunen über das Große, das sich da im Kleinen offenbart: im Kind, das in die Windel macht und umständehalber im Stall geboren wurde, das demnächst ein Flüchtlingskind in Ägypten sein wird. In diesem ganz und gar verletzlichen Wesen liegen Heil und Erlösung der Welt. Hirten und Weise knien nicht in Ehrfurcht vor dem zitternd machenden Faszinosum, sie knien vor dem, der die Maßstäbe über den Haufen wirft, die sonst fürs ehrfürchtige Zittern gelten.

Das wiederum ist selber erschreckend, beunruhigend. Die Engel mussten den Hirten auf dem Feld erst einmal das Zittern ausreden: Fürchtet euch nicht! Der Schrecken geht in der Weihnachtserzählung mit dem Staunen einher; sie bedingen einander. Das Weihnachtsstaunen setzt dem aus all den dunklen Ecken hervorspringenden Schrecken entgegen: Du hast nicht das letzte Wort. Es setzt dem Erschrecken über die Erderhitzung das Staunen über Millionen junge Menschen entgegen, die sich nicht damit abfinden wollen - und die Erkenntnis, dass es ginge, wenn man wollte. Dem Schrecken des Krieges begegnet es mit dem Staunen über die Menschlichkeit inmitten der Gewalt, dem Elend der Flucht mit dem Wunder der Hilfsbereitschaft. Es bleiben Hass und Menschenfeindschaft der Rechten nicht unwidersprochen, weil sich ihm Menschen entgegenstellen. Und allen Weltuntergangsängsten steht das Staunen darüber entgegen, dass es mehr Möglichkeiten zur Rettung der Welt gibt, als man sich je denken kann.

Mehr Mut zum Staunen, das wäre ein schönes Weihnachtsgeschenk: mehr Mut, sich berühren zu lassen von etwas, das größer ist als man selbst, als die eigene kleine Egozentrik, der eigene Horizont, das eigene Wissen. Der Himmel ist offen, wenn man lernt, ihn offen zu sehen, ob religiös oder nicht. Und dann ist "Boah ey" tatsächlich einer der Namen Gottes.

© SZ vom 24.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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