Statistik:Tote jeden Tag

Die US-Regierung versucht die Gewalt von Polizisten zu verringern, die vor allem Schwarze trifft - doch die Zahl der Opfer steigt. Aus den verfügbaren Zahlen lassen sich allerdings auch positive Schlüsse ziehen.

Von Reymer Klüver

Amerika ist schockiert: Tödliche Schüsse von Polizisten auf offenkundig wehrlose Menschen, festgehalten auf grauenerregenden Handy-Videos, und das zweimal innerhalb von 48 Stunden. Beide Male waren die Opfer Schwarze. Und nun die Heckenschützen-Attacken auf Polizisten in Dallas, die wie Rachemorde aussehen. Mit brutaler Macht kehrt ein Problem ins Bewusstsein der Nation zurück, das, von gelegentlichen öffentlichen Aufwallungen nach besonders spektakulären Fällen einmal abgesehen, gewöhnlich schnell wieder in Vergessenheit gerät: die Leichtfertigkeit, mit der Amerikas Polizisten töten. Und zwar unverhältnismäßig oft Angehörige von Minderheiten, Afro-Amerikaner vor allem und Hispanics.

Erst vor knapp zwei Jahren hatte der Fall des jungen Michael Brown das Land in Aufruhr versetzt. Der Schwarze war in Ferguson bei St. Louis von einem weißen Polizisten erschossen worden, obwohl er erkennbar keine Bedrohung dargestellt hatte. Unruhen in Ferguson und Demonstrationen quer durchs ganze Land waren die Folge. Die US-Regierung versprach, gegen Diskriminierung und exzessive Polizeigewalt vorzugehen. So sollen Polizisten künftig landesweit in Deeskalationstechniken und im Umgang mit geistesgestörten Tätern geschult werden.

990 Menschen

So viele Opfer von Polizeigewalt hat die "Washington Post" im vergangenen Jahr mit Namen dokumentiert. Der "Guardian" zählte sogar noch 156 Tote mehr. Beide Blätter stimmen überein, dass sie sicher nicht alle Fälle erfasst haben und die tatsächliche Zahl der Opfer noch deutlich höher liegen dürfte.

Geändert hat sich seither nicht viel. Im Gegenteil: Die Zahl der Fälle mit tödlicher Polizeigewalt steigt. Zu diesem Ergebnis kommen Auswertungen von Datensammlungen, die der britische Guardian und die US-Zeitung Washington Post nach den Ereignissen von Ferguson angelegt haben. Demnach ist die Zahl der Zwischenfälle, bei denen Menschen durch Polizeikugeln oder durch Polizei-Taser, also Elektroschockgeräte, ums Leben gekommen sind, in den ersten sechs Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr noch einmal deutlich nach oben gegangen. Die Washington Post dokumentierte 465 Todesfälle im ersten Halbjahr 2015, bis Ende Juni dieses Jahres waren es bereits 491. Der Guardian kommt sogar auf noch mehr Opfer: Das britische Blatt hat in der ersten Hälfte 2016 exakt 543 Tote registriert. 2015 zählte der Guardian 1146 Tote, die Post 990 Menschen. Beide Blätter stützen sich auf öffentlich zugängliche Quellen wie Polizeiberichte oder lokale Zeitungsmeldungen, die dann verifiziert werden.

Zwar gibt es auch eine offizielle US-Statistik, die tödliche Schüsse von Polizisten dokumentiert. Die Bundespolizei FBI veröffentlicht jährlich einen entsprechenden Bericht. Aber dessen Datengrundlage bezeichnet selbst FBI-Chef James Comey als "inakzeptabel". Denn die etwa 18 000 Polizeidirektionen in den USA sind nicht verpflichtet, dem FBI die tödlichen Zwischenfälle zu melden. Nicht einmal die Hälfte tut es. Und so ist es wenig verwunderlich, dass die FBI-Statistiken kaum die Hälfte der Todesfälle erfassen, die Guardian oder Washington Post dokumentieren.

Statistik: Schockierend, aber kein Einzelfall: Ausschnitt aus dem Video, das die Erschießung von Alton Sterling zeigt.

Schockierend, aber kein Einzelfall: Ausschnitt aus dem Video, das die Erschießung von Alton Sterling zeigt.

(Foto: AP)

Deutlich gestiegen ist in diesem Jahr auch die Zahl der tödlichen Zwischenfälle, die gefilmt wurden, wie diese Woche in St. Paul oder Baton Rouge: von 76 im ersten Halbjahr 2015 auf 105 in diesem Jahr. Nicht verändert hat sich indes der hohe Anteil von Angehörigen der US-Minderheiten unter den Opfern. Schwarze wurden zweieinhalb Mal so oft Opfer der Polizei wie Weiße. Etwa die Hälfte der Getöteten ist weißer Hautfarbe, die andere Hälfte zählt zu einer der Minderheiten.

Zwei Zahlen mögen keine Rechtfertigung, aber eine Erklärung liefern für die Geschwindigkeit, mit der US-Polizisten ihre Waffen abfeuern: Sie haben offenkundig Angst, selbst Opfer von Gewalt zu werden. Nicht einmal zehn Prozent der Getöteten waren unbewaffnet, als sie erschossen wurden, und ein Viertel der Erschossenen war zum Zeitpunkt des Zwischenfalls geistig nicht zurechnungsfähig.

Eine positive Veränderung dokumentieren Washington Post und Guardian indes doch: Die Zahl der Polizisten, die nach tödlichen Schüssen belangt werden, steigt deutlich. Zwischen 2005 und 2014 kam es nur zu 47 Anklagen gegen Todesschützen. Im vergangenen Jahr allein waren es bereits 18. Ende vergangenen Jahres feuerte Chicagos Bürgermeister seinen Polizeichef, nachdem das Video eines tödlichen Polizeiübergriffs im Netz aufgetaucht war. Und im Mai musste San Franciscos oberster Polizist gehen: Seine Leute hatten binnen weniger Monate drei Obdachlose erschossen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: