Stasi-Unterlagen:"Wir sind keine Enthüllungsinstitution"

Marianne Birthler über die Stasi-Akte von Karl-Heinz Kurras und die anhaltende Kritik an ihrer Behörde.

C. von Bullion und M. Drobinski

Seit die Stasi-Akte des Berliner Polizisten Karl-Heinz Kurras aufgetaucht ist, wehrt sich die Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde gegen den Vorwurf, in ihrem Hause gehe es drunter und drüber: Marianne Birthler spricht über das Arbeitsethos ihrer Mitarbeiter, Ost-West-Befindlichkeiten und die Vermarktung von Sensationen.

Stasi-Unterlagen: Marianne Birthler

Marianne Birthler

(Foto: Foto: ddp)

SZ: Frau Birthler, nach Ihrem Amtsantritt haben Sie mal von dem "Giftzeug" gesprochen, das in den Archiven der Stasi lagert. Haben auch Sie inzwischen Schaden an diesem Gift genommen?

Birthler: Vieles, was ich aus den Akten erfahren habe, ist mir unter die Haut gegangen. Vergiftet bin ich dadurch nicht. Aber natürlich ist die Belastung für meine Mitarbeiter groß, die Tag für Tag in den Akten lesen, wie ein Staat versuchte, Menschen auszuforschen und manchmal auch zu vernichten. Andererseits finden sich in den Akten auch die wunderbaren Geschichten derer, die mit Mut und Witz dem Staat ihr eigenes Leben abtrotzten.

SZ: Auch im Streit um die Stasi-Akte von Karl-Heinz Kurras geht es giftig zu. Man wirft Ihnen vor, dass Sie politisch brisante Dokumente nur zufällig finden.

Birthler: Ich kann da immer nur unsere Arbeitsweise erläutern. Kein Archivar der Welt kennt alles, was in seinem Archiv lagert. Da ist nicht sein Job, er muss vielmehr dabei helfen können, etwas zu finden. Aber ob etwas gefunden wird, liegt an dem, der fragt. Deshalb werden in allen Archiven immer wieder überraschende Entdeckungen gemacht. So war es auch mit der Akte Kurras. Wer Archive nicht von innen kennt, kann sich das schwer vorstellen. Schwierig wird es, wenn solche Vorwürfe von denen kommen, die es besser wissen müssten.

SZ: Einer Ihrer wichtigsten Forscher, Helmut Müller-Enbergs, hat die Kurras-Akten offenbar ausgewertet, ohne dass Sie davon erfuhren. Er bestreitet das. Es entsteht der Eindruck, dass in Ihrer Behörde nicht alles läuft, wie es laufen soll.

Birthler: Wir prüfen gerade, was da falsch gelaufen ist. Es ist definitiv nicht in Ordnung, dass ich erst kurz vor der Veröffentlichung von der Akte erfahren habe. Ich hätte sofort nach deren Auftauchen informiert werden müssen. Sie verstehen sicher, dass ich mich über mögliche Pflichtverletzungen von Mitarbeitern öffentlich nicht äußere, solange sie nicht vollständig geklärt sind.

SZ: Mangelt es im Haus an Loyalität?

Birthler: Es geht um einen Einzelfall, den ich ernst nehme. Ich habe ansonsten bewundernswert loyale Mitarbeiter.

SZ: Ihre Behörde wirkt seit einiger Zeit wie gejagt von Kritikern. Warum setzen Sie, zumal im Jubiläumsjahr des Mauerfalls, nicht selbst mehr Themen?

Birthler: Unsere Hauptaufgaben bestehen zum einen darin, den Opfern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Wissenschaftlern und Medien Stasiunterlagen zur Verfügung zu stellen. Zum anderen erforschen wir Struktur und Tätigkeit des MfS und informieren die Öffentlichkeit über den Apparat, der die Menschen beobachtete, einschüchterte und verfolgte. Wir tun das mit einigem Erfolg.

Wir sind keine Enthüllungsinstitution und kein Sensationsvermarkter. Es geht mir vielmehr darum, dass Opfer zu ihrem Recht kommen, und immer mehr Menschen begreifen, was eine Diktatur ist. Es kann doch nicht unsere Aufgabe sein, den Inhalt der Stasi-Akten selbst zu vermarkten, statt sie Antragstellern zur Verfügung zu stellen. Wir picken uns nicht die Rosinen aus dem Kuchen, um mit der Behörde in die Schlagzeilen zu kommen, das überlasse ich gern anderen.

SZ: Ihr Vorgänger Joachim Gauck wollte alle aufrütteln, die nicht mehr an die DDR-Vergangenheit rühren wollten. Fehlt Ihnen diese Unerbittlichkeit?

Birthler: Ich kenne keinen unerbittlichen Gauck. Im Übrigen sind wir verschiedene Menschen, haben aber ganz ähnliche Meinungen und Ziele. Was hat Joachim Gauck anders gemacht als ich?

SZ: Sein Name steht für große Konfliktbereitschaft. Zehntausende wurden gegauckt, gebirthlert wird keiner.

Birthler: Gaucken oder birthlern - die Begriffe finden Joachim Gauck und ich beide furchtbar. Der Unterschied zwischen uns liegt weniger in der Person als darin, dass sich die Zeiten geändert haben. In den ersten zehn Jahren nach dem Ende der DDR gab es im Wochentakt sensationelle und bedrückende Entdeckungen. Das hat natürlich abgenommen.

Inzwischen gibt es neue, genauere Fragen. Eine nachhaltige Auseinandersetzung mit der Diktatur erreicht man anders als mit Sensationsgeschichten. Da erfahren Schüler, wie Jugendliche in der DDR verfolgt wurden, wie ein Punk von Stasi und Polizei behandelt wurde, nur weil er bunte Haare hatte, oder wie zwei Jugendliche über die Mauer wollten und einer erschossen und der andere festgenommen wurde. Das ist nichts für Ihre erste Seite, aber ich garantiere Ihnen: Jugendliche bewegt das viel mehr als ein Fall Kurras.

Was ist wichtiger: Die Opfer oder die Täter? Und warum kümmert sich die Birthler-Behörde kaum um die Arbeit der Stast im Westen? Lesen Sie mehr auf der nächsten Seite.

"Es ist nötig, die Täter zu nennen. Aber es freut micht nicht"

SZ: Ihnen sind vor allem Aufklärung und die Opfer der Stasi wichtig. Andere interessieren sich mehr für die Täter.

Birthler: Die Akten wurden für die Opfer des Staatssicherheitsdienstes geöffnet. Der Gesetzgeber wollte keine Wahrheitskommission wie in Südafrika. Dort gibt es keine offenen Akten, und die Opfer sind auf das angewiesen, was die Täter freiwillig erzählen - das ist bei uns zum Glück anders. Die Bildungsarbeit und die Solidarität mit Opfern der Stasi schließen im Übrigen weder Enthüllungen noch die Erforschung politischer Zusammenhänge aus.

Es kommt aber sehr darauf an, mit welchem Zungenschlag dies geschieht. Es gibt Leute, die freuen sich, wenn ein IM enttarnt wird, das ist für sie das Tollste überhaupt. Ich finde es nötig, die Täter beim Namen zu nennen - aber ich freue mich nicht, wenn ein Verrat entdeckt wird. Ganz und gar nicht.

SZ: Vernachlässigen Sie die Arbeit der Stasi im Westen, weil Ihnen der emotionale Zugang zu diesem Thema fehlt?

Birthler: Überhaupt nicht. Natürlich ist mir das, was ich in der DDR erlebt habe, emotional näher als die West-Geschichte, aber das hat keine Auswirkungen auf meine Arbeit. Ich erwarte ja auch von Menschen aus dem Westen, dass es sie berührt, wenn sie erfahren, wie Ehepaare und Verwandte einander verraten haben. Und von Ostdeutschen, dass sie sich für den Westen interessieren. Ich war nicht bei der Demo am 2. Juni 1967, aber es interessiert mich doch, wie prägend das Datum für eine ganze Generation war. Wir müssen einander Ost- und Westgeschichten erzählen - und uns davon anfassen lassen.

SZ: Wie erklären Sie sich die Kritik, es mangele an Aufarbeitung der Stasi-Aktivitäten in der Bundesrepublik?

Birthler: Da kann ich nur Vermutungen anstellen. Es gibt im Westen nach wie vor ein weit verbreitetes Desinteresse an der DDR und der Staatssicherheit. Andere wieder verlangen, dass wir uns vorrangig auf den Westen konzentrieren. Für sie ist das Stasi-Thema erst relevant, wenn es um den Westen geht und um die Frage, ob nun die westdeutsche Geschichte umgeschrieben werden muss. Unsere Wissenschaftler haben bereits acht Bücher zur Westarbeit des MfS publiziert, weil das ein wichtiges Thema ist. Aber es ist nicht das einzige und wichtigste. Die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen fanden nun einmal in der DDR statt.

SZ: Warum unterstützen Sie nicht die Idee der FDP, die Stasi-Arbeit von Bundestagsabgeordneten zu untersuchen?

Birthler: Wenn der Bundestag bereit ist, ein solches Forschungsprojekt zu finanzieren, bin ich sehr damit einverstanden. Das wäre allerdings ein Projekt für ein wissenschaftliches Institut und nicht eines für unsere kleine Forschungsabteilung. Ich weiß nicht, wie der Bundestag in dieser Frage entscheiden wird - in dieser Legislaturperiode wird sich wohl nicht mehr viel bewegen.

SZ: Dabei hat doch gerade die Erforschung von Stasi-Verstrickungen in die ARD gezeigt: Es kann funktionieren.

Birthler: Ganz richtig - aber es ging beim Forschungsprojekt "ARD und Ministerium für Staatssicherheit" eben gerade nicht nur um Stasi-Verstrickungen, sondern um die Frage, wie das MfS versucht hat, Informationen zu gewinnen und Einfluss auszuüben. Der Bundestag wäre verglichen damit ein ungleich größeres Projekt.

Der Königsweg wäre, dass Institutionen von sich aus sagen: Wir wollen unsere Geschichte erforschen. Der Berliner Innensenator Ehrhart Körting hat erfreulicherweise nach Bekanntwerden der Kurras-Akte signalisiert, dass es ein Forschungsprojekt zur Berliner Polizei geben könnte. Solide Aufklärung verhindert auch wilde Spekulationen. Die Realität ist spektakulär genug.

SZ: Ihre Kritiker sagen: Die Stasi-Akten gehören dringend ins Bundesarchiv.

Birthler: Plausible Argumente dafür sind sie aber bisher leider schuldig geblieben. Dagegen, dass die Akten eines Tages ins Bundesarchiv kommen, habe ich nichts, aber jetzt ist es dafür noch zu früh - und außerdem kommt es auf die Rahmenbedingungen an.

SZ: Im Bundesarchiv sitzen professionellere Archivare als bei Ihnen.

Birthler: Wer sagt das? Bei uns arbeiten derzeit 124 voll ausgebildete Archivare und viele Fachleute mit jahrelangen, unersetzlichen Erfahrungen in der Recherche. Es gibt einige Kritiker, die - manchmal aus etwas durchsichtigen Gründen - unsere Kompetenz bestreiten. Zum Glück hat die große Mehrheit derer, die mit uns zusammenarbeiten, völlig andere Erfahrungen gemacht.

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