Süddeutsche Zeitung

Stasi-Aktivitäten im Westen:Auf der Suche nach unentdeckten Sumpfblüten

Der Fall Kurras entfacht eine neue Debatte über den Einfluss der Stasi in Westdeutschland. War die BRD unterwandert? Wer spionierte noch alles?

Hans Leyendecker

Wer noch, wenn schon die Knall-Charge Karl-Heinz Kurras für die Staatssicherheit spionierte? Wo überall hockten die Spione? War Westdeutschland unterwandert?

Der tiefe Fall des Schützen Kurras alias Otto Bohl, der 1967 Benno Ohnesorg erschoss, hat eine neue Debatte über den Einfluss der Stasi in der alten Bundesrepublik, über Niedrigkeit und Verrat und über Effizienz und Defizite der Stasi-Unterlagen-Behörde ausgelöst, die 112 Kilometer Stasi-Akten aufbewahrt und aufarbeitet.

Die 17 Ordner der Akte Kurras waren viele Jahre unentdeckt geblieben. Keiner hatte nach ihm gefragt. Gibt es noch viele solcher unentdeckter Sumpfblüten?

Die Spekulationen wuchern: Ob sein Vater, der Studentenführer Rudi Dutschke, 1968 von einem Stasi-Schergen niedergeschossen wurde, fragt jetzt sein Sohn Marek. Aber die Akte des Attentäters Josef Bachmann - ein Wicht, der aus dem Osten kam - ist schon mehrmals gesichtet worden. Ohne Hinweis auf die Stasi.

Wilde Theorien

Oder wurde Generalstaatsanwalt Siegfried Buback nicht von RAF-Schergen, sondern von der Stasi erschossen? Auch diese wilde Theorie wird in diesen Tagen gehandelt. Dass sich die Bundesanwaltschaft den Vorgang Kurras noch einmal anschauen will, um nach einem Auftragsmord zu suchen, ist eher Formsache. Der findet sich nicht in der Akte.

Dank der fürs Ausland zuständigen Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) hatte die Stasi vor der Wende in der Bundesrepublik in vielen Einrichtungen kräftig mitgemischt. Durch den Kauf von Stimmen verhinderte die HVA den Sturz von Willy Brandt und war später an seinem Abgang beteiligt, weil sie in der Regierungszentrale den Spion Günther Guillaume platziert hatte. Im Kanzleramt hatte sie über die Jahrzehnte immer mindestens einen Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), wie die Maulwürfe genannt werden.

Millionen Bürger im Osten wurden nach der Wende penibel auf Stasi-Verwicklungen überprüft. Einrichtungen im Westen hingegen interessierte das nicht. Ein Vorstoß der FDP, die Akten aller Abgeordneten seit 1949 auf eine mögliche Zusammenarbeit mit der Stasi zu überprüfen, wurde am Freitag abgelehnt.

Vor drei Jahren gab es große Aufregung, weil für die Wahlperiode von 1969 bis 1972 bei 49 Abgeordneten Hinweise auf Stasi-Kontakte gefunden worden waren und weil die Leiterin der Behörde, Marianne Birthler, angeblich die Recherchen behindern wollte. Zog in Berlin jemand die Handbremse von oben? Und hatte nicht der frühere HVA-Chef Markus Wolf immer von einer "parteiübergreifenden HVA-Fraktion" im Bundestag gesprochen? Die sechste Wahlperiode wurde dann doch untersucht, und die Zahl 49 erwies sich als Irrläufer.

In seinem 2007 erschienen Standardwerk "Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage" hat der Stasi-Forscher Georg Herbstritt die damalige Aufregung mit "Fehldeutungen" der HVA-Buchführung erklärt. Abgeschöpfte Abgeordnete waren als verdächtig eingestuft worden. Auch wurden die in ihrem Umfeld eingesetzten IM mitgezählt. In einigen Fällen, so Herbstritt, seien "Schlussfolgerungen kaum möglich".

Sicher ist, dass in dieser Zeit fünf Abgeordnete im Bundestag saßen, die nach geltender Lehre als Agenten einzustufen sind. Für die Zeit zwischen 1950 und 1989 sind elf Bundestagsabgeordnete bekannt, die Ost-Berlin zu Diensten waren. Dabei müsse es sich, so Herbstritt, "nicht um den letztgültigen Stand" handeln. Eine HVA-Fraktion gab es aber nicht.

Die Bundesanwaltschaft hat in den neunziger Jahren gegen 2928 Bundesbürger Ermittlungsverfahren wegen Spionagetätigkeit eingeleitet. Jeder sechste Fall kam zur Anklage. Mit den knapp 3000 Ermittlungsverfahren sei "zumindest annäherungsweise die Zahl der Bundesbürger beziffert, die Ende der achtziger Jahre aktiv für DDR-Geheimdienste tätig waren", schreibt Herbstritt. Die "Obergrenze" sei "bei etwa 4000 West-IM anzusetzen". Andere Stasi-Exegeten spekulieren hingegen über etliche tausend unentdeckte Spitzel.

Bei diesem Thema gibt es viele Ignoranten und gnadenlose Überzeichner. Der penible Forscher Helmut Müller-Enbergs, der auch den Fall Kurras aufgearbeitet hat, ging in seiner 2008 erschienen Analyse des IM-Netzes der Staatssicherheit davon aus, dass über etwa vierzig Jahre insgesamt mehr als 12.000 Bundesbürger im Westen IM waren. Zuletzt seien es etwa 3000 IM gewesen.

Wichtige Akten wurden vernichtet

Das Thema Staatssicherheit im Westen ist auch deshalb unübersichtlich geblieben, weil etliche westdeutsche Ämter ihre Akten vernichtet haben. Und bevor die Stasi-Unterlagen-Behörde ihre Arbeit aufnehmen konnte, waren im Osten die meisten Akten über Helfer im Westen vernichtet worden. Stasi-Akten, die in letzter Stunde von Mitarbeitern der Staatssicherheit zerrissen worden waren, weil die Schreddermaschinen heiß liefen, werden manuell zusammengefügt. Die Puzzler, die seit mehr als einem Jahrzehnt mühsam Sack für Sack leeren, haben Akten von Sascha Anderson gefunden, von Heinrich Fink und von einem Bischof. Interessant - aber doch nur Ergänzungen zu bekannten Fällen.

Angesichts der Schnipsel, die vielleicht mal von einem Automaten zusammengefügt werden, dem Zufallsfund Kurras, den Diskussionen über die Überprüfung von Abgeordneten, bekommt mancher Betrachter der Eindruck, die Behörde, für die 1909 Beschäftigte arbeiten, sei für die Organisation von Forschungsprojekten dieser Größe und Bedeutung nicht bestens geeignet. Hundert Millionen Euro kostet der Apparat im Jahr. Den Kritikern ist das zu teuer oder die Aufklärung dauert ihnen zu lang.

Vor allem diejenigen, die Behördenleiterin Marianne Birthler ablehnen, plädieren dafür, die Akten ins Bundesarchiv zu verfrachten. Ob die da besser ausgewertet würden, ist fraglich. "Die Stasi-Akten lesen sich nicht besser, wenn sie ins Bundesarchiv verfrachtet werden", erklärte Richard Schröder, der bei der Unterlagenbehörde dem Beirat vorsteht.

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SZ vom 30.05.2009/dmo
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