Süddeutsche Zeitung

Stasi-Akten:Das schwierige Erbe der Stasi

Auf 111 Regalkilometern verwaltet eine Behörde die papierene Hinterlassenschaft des Überwachungsstaates DDR. Nun soll sie sich in das Bundesarchiv eingliedern - am Wie jedoch gibt es Kritik.

Von Jens Schneider, Berlin

Es begann mit einem Sturm, und der öffnete den Einblick in eine monströse Welt. Am 15. Januar 1990, also vor mehr als dreißig Jahren, drangen Bürger der DDR in die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße ein. Sie besetzten das Hauptquartier des Ministeriums für Staatssicherheit, es war ein Akt der Selbstbefreiung mit einem konkreten Ziel. Die Besetzer stoppten die begonnene Vernichtung der Akten durch die Stasi. Sie sicherten abertausende Notizen über Personen, Zeugnisse von Spitzelei und Verrat.

Als Provisorium für die Aufklärung entstand eine Institution, geführt vom späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck: die Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen, wie sie verkürzt genannt wird, anfangs hieß sie für die meisten nur Gauck-Behörde. 3, 3 Millionen Menschen stellten seither einen Antrag auf Akteneinsicht.

Prominente Personen aus der Wendezeit halten die Reform für halbherzig

Die Behörde wuchs, stellte Historiker für eigene Forschungen an, und blieb viel länger als geplant. Auf Gauck folgte Marianne Birthler, ihr Nachfolger Roland Jahn, seit 2011 im Amt, soll der letzte Chef sein. Die Koalitionsfraktionen im Bundestag bereiten die Integration ins Bundesarchiv vor. "Sie wird Teil des Gedächtnisses der Nation", sagt Jahn, er sei "zufrieden, dass die Weichen für die Zukunft gestellt werden".

Aber ist das so? Von einem "problematischen Weg" spricht der Theologe Richard Schröder, früher Vorsitzender des Beirats der Behörde. "Negativ überrascht" zeigt sich Wolfgang Thierse, der frühere Bundestagspräsident. Beide warnen in Gesprächen mit der Süddeutschen Zeitung, dass die Reform halbherzig verfolgt werde.

Die Behörde hat mehr Mitarbeiter als das Bundesarchiv

Diesen Freitag war die erste Lesung im Bundestag, nächste Woche soll es eine öffentliche Anhörung im Kulturausschuss geben. Im nächsten Sommer soll die Integration vollzogen sein, dann endet Jahns Amtszeit. 111 Kilometer Akten, dazu Filme und auch Säcke voller im letzten Moment von der Stasi zerrissener Unterlagen lagern in der früheren Stasizentrale und Außenstellen in den ostdeutschen Ländern. Die Behörde hat 1347 Mitarbeiter, mehr als das in Koblenz ansässige Bundesarchiv, in das sie integriert wird - zumindest nominell, die Akten bleiben an den historischen Orten. Weiter können Bürger Einsicht in ihre Akten beantragen, 56 526 taten das 2019.

Auch als Teil des Bundesarchivs soll die Behörde sich für Bildung und Aufklärung zur Stasi zuständig fühlen und eine Forschungsabteilung unterhalten. Das halten Kritiker für falsch. Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) arbeitete im Auftrag des Bundestags bis zum Sommer 2016 in einer Expertenkommission zur Zukunft der Behörde. Anders als von der Kommission empfohlen, behalte die Behörde eine Sonderstellung, kritisiert er. Im Grunde ändere sich nur das Türschild, "es wird eine Art Fortsetzung der Stasiunterlagenbehörde, was wir so nicht wollten." Die Absicht der Kommission sei es gewesen, dass künftig mit den Akten nach den anerkannten Regeln umgegangen wird, wie man mit Archivmaterial umgehe. Der Status Quo werde festgehalten.

Ein Papier warnt vor einem "Stasi-Unterlagenbiotop"

Dabei wäre es nach Thierses Meinung wichtig, eine Schieflage zu beenden, wie sie sich beim Blick auf die DDR verfestigt habe. Weil die Geschichten von Verrat, Bespitzelung und Misstrauen die Aufmerksamkeit auf sich zogen, habe "die Stasi-Aufarbeitung als Faszinosum immer im Zentrum gestanden", sagt er. Es sei in den Hintergrund geraten, dass die Staatssicherheit der DDR nicht die zentrale Machtinstanz in der DDR gewesen sei, sondern "Auftragnehmer war und einen Auftraggeber hatte in der der SED". Thierse sagt: "Wir wollten, dass die Forschung zu dem Thema selbständiger wird. Unsere Intention war, dass sie aus der Stasi-Zentriertheit herauskommt."

Künftig sollte die "höchste archivarische Kompetenz" des Bundesarchivs das Vorbild sein, sagt Richard Schröder, auch Mitglied der Expertenkommission und einst in der ersten frei gewählten Volkskammer Fraktionsvorsitzender der SPD. Als problematisch bewertet er die in der Behörde gewachsene Forschungsabteilung. So eine "Behördenforschung" sei mit der Wissenschaftsfreiheit nicht zu vereinbaren, warnt er. Es werde ein "Stasi-Unterlagenbiotop" bewahrt, heißt es in einem Papier, das in Kritiker-Kreisen kursiert. Schröder moniert auch, dass die Außenstellen ausgebaut würden, obwohl sie selten von Bürgern genutzt würden.

Fast die Hälfte der Behörden-Mitarbeiter sitzt in den Außenstellen. Behördenchef Jahn verweist auf die Länder, sie sähen die regionalen Stasi-Unterlagen als ihr "Kulturgut". Dort seien in der aufgewühlten Wendezeit die Akten durch Besetzungen erobert worden. "Diesen Symbolcharakter kann man nicht einfach wegwischen", sagt er.

"Das ist eine Geschichte, die den nächsten Generationen erzählt werden muss", sagt der scheidende Leiter Roland Jahn

Er achtet auf die Wünsche all jener, die fürchten, dass die Erinnerung an die Stasi verloren geht, gar ein Schlussstrich gezogen wird - oft Veteranen der friedlichen Revolution. In den Außenstellen werde das Angebot "je nach Bedarf weiter bestehen, und damit sind dann auch Ausstellungen verbunden", in Suhl etwa , wo 3000 Leute im Dezember 1989 die Stasi-Bezirksverwaltung gestürmt haben. "Das ist", sagt er, "eine Geschichte, die den nächsten Generationen erzählt werden muss."

Jahn sagt: "Wir betten das Stasi-Unterlagen-Archiv in die Archivlandschaft des Bundes ein. Aber wir machen klar und deutlich, der besondere Charakter und der Symbolwert dieser Stasi-Unterlagen wird gewahrt." Das Konzept sei ein Weg der Öffnung, wie ihn die Politik gewollt habe.

So seien Historiker aus seinem Haus "in Verbünde mit Berliner Universitäten abgeordnet worden, um dort an Projekten zur DDR-Geschichte zu forschen". Die Behörde konzentriere sich darauf, die Zugänge zu den Quellen zu erforschen: "Es ist die Hinterlassenschaft einer Geheimpolizei, die nicht ohne weiteres gelesen werden kann. Das soll für alle Nutzer durchschaubarer gemacht werden."

Jahn hält deshalb an der Forschung fest. "Deshalb ist es wichtig, dass hier wissenschaftlich gearbeitet wird." Auch er teile grundsätzlich den Ansatz, dass es keine allgemeine Behördenforschung zur Geschichte geben solle. "Aber wir müssen weiter die Quellen erforschen. Wir machen Editionen, zum Beispiel unsere langjährige Edition 'Die DDR im Blick der Stasi', die werden wir fortsetzen und weitere entwickeln."

Aufmerksam beobachten Historiker mit Expertise zur DDR-Geschichte den Prozess. "Die Besorgnis ist schon da, dass auch mit der Zusammenführung die bisherige Sonderstellung der Stasi-Unterlagenbehörde beibehalten wird", sagt Martin Sabrow. Der Direktor des Leibniz-Instituts für Zeithistorische Forschung in Potsdam gehörte der Expertenkommission an. Er hat oft gemahnt, dass "die Quellenerschließung, aber nicht die Forschung selbst bei einer Behörde" angesiedelt sein dürfe.

Statt eines Beauftragten für die Stasi-Unterlagen wird es künftig einen für die Opfer des SED-Regimes geben

Nun spricht er von einem Schritt in die richtige Richtung: "Es ist eine institutionelle Zusammenfassung, die allerdings noch keine Strukturreform bedeutet." Man nähere sich dem Thema zu Recht mit einer erheblichen Behutsamkeit. Den einen gehe es nicht weit genug, auf der anderen Seite stünden Bürgerrechtler, "die sagen: Jetzt übernimmt der Westen den Osten."

Sabrow erwartet, dass die historische Forschung schon von allein dafür sorgen werde, dass die Staatssicherheit zwar ein wichtiges Forschungsthema bleibe, "aber nicht den Blick auf andere Fragen an die DDR und ihre Diktaturgeschichte verstellt". Das Stasi-Unterlagenarchiv werde, der Macht des Faktischen folgend, mit der Zeit seinen Sonderstatus verlieren. Also sei er, was die bevorstehende Fusion angehe "vorsichtig optimistisch".

Bei der ersten Lesung im Bundestag wurde deutlich, wie heikel die Angelegenheit auch für das Parlament ist. "Nach jedem Gespräch wurde mir klarer, dass es sich um ein Thema mit sehr, sehr unterschiedlichen Auffassungen handelt", sagte die Sozialdemokratin Katrin Budde, die den Entwurf für das Parlament mit Kollegen ausgearbeitet hat. Sie habe bald erkannt, sagte die SPD-Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt: "Das ist ein ziemlich vermintes Gelände." Die einen wollten, dass endlich ein ganz normales Archiv daraus gemacht werde. Die anderen warnten sie: Da werde eine Errungenschaft der Revolution zerstört. "Das Gesetz sichert die Überführung der sensiblen Akten in die guten Händen des Bundesarchivs", sagte Budde, zugleich achte es die Besonderheit der Akten, bei denen es oft um noch lebende Personen oder deren Angehörige gehe.

Sie sprach die Frage der historischen Einordnung an. "Ja, es stimmt: Die DDR war nicht nur Stasi." Sie kenne die Einwände der Kritiker, wonach jetzt die Bedeutung der Stasi noch durch die Form der Integration überhöht werde. Sie sehe das nicht so. Ausdrücklich sprach Budde sich dafür aus, an den früheren Außenstellen Ausstellungen und Bildungsangebote zu unterhalten. Es sei richtig, wenn in den ostdeutschen Ländern jeweils ein Archivstandort und zusätzliche Außenstellen unterhalten würden. "Dies ist eine ganz besondere Fusion", sagte sie, schon weil die zu integrierende Behörde größer sei als die aufnehmende, das Bundesarchiv.

Die Christdemokratin Elisabeth Motschmann betonte die Bedeutung der Behörde, die Möglichkeit der Einsicht in die persönliche Akte sei eine weltweit einmalige Errungenschaft mit Vorbildfunktion. Auch Grüne und FDP unterstützen den Entwurf der Koalitionsfraktionen. Für die Grünen betonte die Leipziger Abgeordnete Monika Lazar, ihrer Fraktion sei es wichtig gewesen, dass alle Außenstellen im Gesetz festgeschrieben seien. Sie sei zudem froh, dass der Bildungsauftrag im Gesetz festgeschrieben wurde, sagte die Grüne.

Der Kreis der Kritiker hofft auf die Anhörung und weitere Diskussionen im Parlament, auch mit Blick auf ein Kernstück des Vorhabens. Es soll künftig einen SED-Opferbeauftragten geben, angebunden an den Bundestag, mit weitreichenden Aufgaben. "Es ist höchste Zeit, dass aus dem Beauftragten für die Akten einer für die Menschen wird", begrüßt Roland Jahn den Plan. Es sei ja verrückt, wie heiß über das Amt bisher schon diskutiert wurde, sagte die Sozialdemokratin Budde am Freitag im Bundestag. Über den Zuschnitt soll nun im Bundestag noch beraten werden.

Der frühere Bundestagspräsident Thierse sieht kritisch, dass der künftige Opferbeauftragte mit weitreichenden Aufgaben ausgestattet werden soll. "Wir hatten einen Ombudsmann vorgeschlagen, der sich im strengen Sinne allein um die Belange und Interessen der Opfer kümmern sollte. Jetzt sieht es so aus, dass es im Grunde weiter einen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen geben wird." Thierse sagt: "Damit bekommt dieses Amt eine Stellung, die ich für nicht mehr angemessen halte." Diesem Bundesbeauftragten werde eine herausragende Stellung zugeschrieben, während andere wichtige Institutionen zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte mehr Unterstützung bräuchten. Der Theologe Richard Schröder sagt, er sei "wirklich gespannt, welches Genie für dieses Amt gefunden wird."

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