Stand der Aufklärung von sexuellem Missbrauch:5000 Euro für die Seele eines Kindes

Canisius-Kolleg

Matthias Katsch, ehemaliger Schüler des Canisius-Kollegs, steht vor einem Gebäude der Jesuitenschule in Berlin.

(Foto: dpa)
  • Noch immer gibt es keine Entschädigungsregel für die Opfer sexueller Gewalt an kirchlichen und anderen öffentliche Institutionen.
  • Statt aufzuklären berichten Opfer von immer neuen Versuchen, sexuelle Übergriffe zu vertuschen
  • Erst 2016 soll eine unabhängige Untersuchungskommission ihre Arbeit aufnehmen.

Von Thorsten Denkler, Berlin

Welchen Wert hat die Seele eines Kindes? Welchen Wert hat die Seele eines Erwachsenen? Eine schwierige Frage. Die katholische Kirche hat sie vor einiger Zeit so beantwortet: höchstens 5000 Euro. Das ist der Betrag, den die Jesuiten den Opfern von sexueller Gewalt etwa an ihrem Berliner Canisius-Kolleg anbieten. Pauschal immerhin. Die katholische Kirche will nur höchstens 5000 Euro hergeben. Und bevor es zu einer Auszahlung kommt, werden die Betroffenen offenbar peinlich genau befragt.

Eine "Anerkennungsleistung" soll das Geld sein. So formuliert es Jesuiten-Pater Klaus Mertes jetzt vor der Bundespressekonferenz in Berlin. Er ist der ehemaliger Leiter des Canisius-Kollegs. Und hat 2010 den Brief geschrieben an Ehemalige der Schule, ob auch auch sie Erfahrung mit sexueller Gewalt hätten. Gebracht hat ihn dazu Matthias Katsch, ein ehemaliger Schüler des Kollegs. Er hatte sich Mertes gegenüber offenbart.

Die Folgen sind unermesslich - lebenslanges Leid, zerbrochene Familien

Der Brief gelangte an die Öffentlichkeit. Und löste ein Welle der Empörung aus. Tausende Missbrauchsopfer meldeten sich. An der Odenwald-Schule wurden Missbrauchsfälle bekannt. Die Grünen gerieten in den Fokus, wegen wachsweicher Beschlüsse zu angeblicher sexueller Vielfalt. Die Täter waren Lehrer, Priester, Gruppenleiter, oft Bedienstete der katholischen oder evangelischen Kirche.

Die Folgen sind unermesslich. Lebenslanges, persönliches Leid, zerbrochene Familien, Selbstverletzungen. "Wir haben Glück gehabt", sagt Matthias Katsch heute. "Wir haben überlebt. Nicht alle. Aber die meisten."

Neben Katsch und Mertes, sitzen noch Anselm Kohn und Adrian Koerfer vor der blauen Wand im großen Saal der Bundespressekonferenz. Sie sind als Betroffene da. Und als Vertreter von Opfer-Organisationen. Zudem ist der von der Bundesregierung eingesetzte "Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs" da, Johannes-Wilhelm Rörig, und die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen. Sie alle wollen ein Zwischenstand der Aufklärung geben, jetzt, fünf Jahre nach dem der Skandal ins Rollen kamen. Es wird eine ernüchternde Bilanz.

Der alltägliche Skandal und das "zweite Verbrechen"

Es ist ein Skandal, der ein Schlaglicht wirft auf den alltäglichen Skandal des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Deutschland. Sehr wahrscheinlich wird genau jetzt ein kleines Mädchen von ihrem Vater vergewaltigt, ein kleiner Junge nach dem Sportunterricht von seinem Lehrer noch einmal in die Umkleidekabine zurückgerufen. Oder muss ein verängstigter Ministrant in der Sakristei die Übergriffe seines Pfarrers über sich ergehen lassen.

Das Jahr 2010 hat ein Fenster geöffnet. Hat klar gemacht, dass sexueller Kindesmissbrauch nicht nur geschieht, sondern vor allem viel zu oft gedeckt, verschwiegen, vertuscht wird und wurde. Dies sei das "zweite Verbrechen", wie Katsch sagt. Er selbst wäre nicht zum Opfer geworden, hätte sich die damalige Leitung des Canisius-Kollegs richtig verhalten.

Das Fenster ist noch immer auf. Nur Wind scheint kaum durchgekommen zu sein. Die Forderung von Katsch und vieler anderer Opfern war 2010: Aufarbeitung, Hilfe und Genugtuung. Katsch meint mit Genugtuung explizit auch eine angemessene Entschädigungszahlung. "Heraus kam: Wenig Aufklärung, wenig Hilfe und keine Entschädigung." Neben ihm nicken Kohn und Koerfer.

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