Stalin-Zeit:Geschichtsbild nach Moskauer Art

Masha Gessen hat erkundet, was das Gulag-System dem heutigen Russland sagt.

Von Robert Probst

Der Weg zum Gulag führt an drei Bächen vorbei, sie heißen "Teufel", "Dämon" und "Satan". Wobei Weg nicht das richtige Wort ist, nur wenige Einheimische wissen, was da einmal gewesen ist in der Wildnis von Butugytschag an der Kolyma im äußersten Nordosten Russlands. Und wie man dort hinkommt. Wer die Strapazen auf sich nimmt, wie die Publizistin Masha Gessen und der Fotograf Misha Friedman, der sieht plötzlich eine gemauerte Plattform, vollständig bedeckt mit abgetragenen, verwitterten Schnürschuhen. Ein Bild, wie man es aus Auschwitz kennt, als Symbol für das Ausmaß des Völkermords. Die Schuhhaufen von Butugytschag "hat niemand hier aufgeschichtet, um Besucher zu beeindrucken. Butugytschag ist von selbst zum Museum geworden", schreibt Gessen. "Nur kommt niemand dorthin, um die Ausstellung zu sehen." Und so soll es auch bleiben, wenn es nach Wladimir Putin geht.

Stalin-Zeit: In Sandormoch war einst eine Hinrichtungsstätte, inzwischen gibt es dort eines der wenigen Gulag-Mahnmale.

In Sandormoch war einst eine Hinrichtungsstätte, inzwischen gibt es dort eines der wenigen Gulag-Mahnmale.

(Foto: dtv)

Die jüngst für ihr Buch "Die Zukunft ist Geschichte" vielfach preisgekrönte Autorin hat hier einen beeindruckenden Essayband vorgelegt, der sich mit Stalins Mordmaschine im heutigen Russland befasst. Dabei führt der deutsche Titel "Vergessen" jedoch in die Irre. Besser trifft es das englische Original: "Never remember". Nur wenige Menschen in Russland interessieren sich für dieses Arbeitslager-Terrorsystem, mit dem die Kommunisten zwischen 1930 und 1953 die Sowjetunion überzogen und Millionen quälten und ermordeten. Eine Bürgerrechtlerin sagt dann auch zu Gessen, man könne nicht von Vergessen sprechen, denn das setze Erinnern voraus und das habe nie stattgefunden. Und so ist der Gulag heute kaum irgendwo zu greifen, es gibt nur wenige Museen. Und dort wird ein Geschichtsbild präsentiert, das besagt, der Gulag sei eben passiert, aber dies bedeute für Gegenwart und Zukunft nichts.

Stalin-Zeit: Im Verwaltungszentrum von Medweschjegorsk wurde der Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals organisiert. Die Arbeiter waren nicht freiwillig hier.

Im Verwaltungszentrum von Medweschjegorsk wurde der Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals organisiert. Die Arbeiter waren nicht freiwillig hier.

(Foto: dtv)

Die Essays handeln von mutigen Menschen, die nach den Opfern suchten und sich fürs Erinnern einsetzen. Sie handeln davon, was der Staat unternimmt, dieser Leute Arbeit zu behindern. Und sie handeln davon, dass einige dieser Leute Putin trotzdem nicht grundsätzlich schlecht finden. Weil sie auch einmal auf der Seite der Sieger sein wollen.

Masha Gessen (Texte) / Misha Friedman (Fotos): Vergessen. Stalins Gulag in Putins Russland. Aus dem Englischen von Sven Koch. dtv, München 2019. 160 Seiten, 25 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: