Es dürfte schwierig sein, in Baden-Württemberg gegensätzlichere Städte zu finden als Mannheim und Konstanz. Bei Mannheim, 316 000 Einwohner, denken viele gleich an Fabrikschlote und Container, und ja, selbst die Mannheimer gestehen zu, dass es hübschere Großstädte gibt als ihre. Aber auch kaum interessantere. Hier hat Carl Benz das Automobil erfunden (1886) und – kaum weniger bedeutsam – Dario Fontanella das Spaghetti-Eis (1969). Heute ist Mannheim eine Industriestadt im Wandel, mit den üblichen Problemen, aber auch mit erstaunlichen Stärken wie einer pulsierenden Kreativwirtschaft.
Dagegen Konstanz am schönen Bodensee, 85 000 Einwohner: eine Uni-Stadt mit der Heimeligkeit eines Städtchens, im Zweiten Weltkrieg von Bomben verschont und deshalb für Besucher auf Schritt und Tritt pittoresk. Man muss dort lange suchen, um eine ungepflegte Ecke zu finden. Zugleich vermarktet sich Konstanz als „Zukunftslabor“ für die Wirtschaft und lebt gut vom Tourismus – das Problem mit den Touristen ist höchstens, dass es für den Geschmack der Einheimischen bisweilen zu viele sind.
„Lasst Bürgermeister die Welt regieren!“
Zwei langjährige Oberbürgermeister dieser beiden Städte haben nun Bücher geschrieben, in denen sie ihre Erfahrungen aus der Kommunalpolitik bündeln. Beim Sozialdemokraten Peter Kurz, Mannheimer OB von 2007 bis 2023, ist es ein pointiertes Thesenbuch geworden („Gute Politik“) – beim Christdemokraten Uli Burchardt, Konstanzer OB seit 2012, eine unterhaltsame Mischung aus Lebenserzählung und Analyse („Menschenschutzgebiet“). Es ist keine völlige Überraschung, dass beide Autoren einer berühmten Forderung des amerikanischen Politikwissenschaftlers Benjamin R. Barber mit Sympathie begegnen. Burchardt zitiert den Satz sogar: „Lasst Bürgermeister die Welt regieren!“
Von 83 Millionen Menschen in Deutschland leben etwa sechzig Millionen in Städten. Die Politiker dort, schreibt Peter Kurz, seien – durchaus im Gegensatz zu den Kolleginnen und Kollegen in Land, Bund und Europa – „umzingelt von Wirklichkeit“. Die Stadt, diesen Ausgangspunkt teilt er mit Uli Burchardt, sei der Ort, an dem sich globale Herausforderungen zu sehr konkreten Aufgaben verdichten: Umweltschutz, Energiewende, Wohnungsbau, Integration. Hier würden „die Gesetze aus Berlin auf die Realität prallen“. Doch nur in den Corona-Jahren, so Kurz, hätten die Einsichten der Kommunen „zumindest indirekt Eingang in die nationale Politik“ gefunden.
Richtige Gedanken führen nicht immer zu guten Ergebnissen
An manchen Stellen schüttelt der Leser gemeinsam mit Kurz den Kopf, Stichwort lähmende Standards. Kurz beschreibt, wie die Sanierung eines alten Wohnblocks zur sozialen Nutzung scheitert, „weil die Wohnungen nicht den Wohnungsgrundrissen der Förderbedingungen entsprechen“. Stattdessen: Abriss und Neubau, viel teurer, viel zeitraubender. Da zeige sich ein deutsches Muster: Man gebe sich mit dem „richtigen Gedanken“ zufrieden, dessen reale Wirksamkeit werde dann häufig nicht mal gemessen.
Der Preis für die angenehme Schlankheit von Kurz’ Büchlein ist, dass nicht alle Thesen so anschaulich belegt sind wie seine Abrechnung mit übertriebener Bürgerbeteiligung. Da klingt Kurz fast traumatisiert. Ein Bürgerentscheid 2013 über die Bundesgartenschau in Mannheim etwa habe nicht zur Befriedung des Streits geführt – die knappe Zustimmung habe den Widerstand eher angefacht. Beteiligungsverfahren, so Kurz, neigten zudem oft zur Exklusivität: „Sie verlangen Zeit, Motivation, Artikulationsfähigeit und schließen diejenigen eher aus, die darüber nicht verfügen.“ Ein „blindes Mehr“ an direkter Demokratie helfe also nicht, findet Kurz, im Gegenteil.
Die Konstanzer Erfahrung ist da keine andere als die Mannheimer. Das eine Beteiligungsinstrument, das Uli Burchardt uneingeschränkt weiterempfiehlt, ist ein originelles: das „Bürgerbudget“, bei dem zufällig ausgewählte Bürger diskutieren und entscheiden, welche Projekte die Stadt mit wie viel Geld unterstützen soll. Burchardts Buch ist sehr persönlich im Ton, und er hat eine Biografie, die dieses Konzept auch trägt. Er ist zugleich Mitglied in der CDU und im globalisierungskritischen Netzwerk Attac, er hat Forstwirtschaft studiert, auf dem Bauernhof gearbeitet und war Marketingchef des auf Ökologie getrimmten Nobelwarenhauses Manufactum.
Mehr Rücksicht auf Menschen als auf Feldhamster
Naturschutz ist für Burchardt ein Lebensthema, dennoch plädiert er für ein radikales Umdenken auf diesem Feld, für einen neuen Pragmatismus. Der lokale Protest gegen Fahrradwege und Windräder bremse die Gesellschaft nur auf dem Weg zu einer „digitalen, klimaneutralen, nachhaltigen“ Stadt, dem titelgebenden „Menschenschutzgebiet“. Die Rücksicht auf den Feldhamster? Wichtig. Die Rücksicht auf den Menschen – noch wichtiger. Burchardt fordert in jeder Beziehung mehr Konsequenz, auch dort, wo es seinen CDU-Parteifreunden vermutlich nicht gefallen wird: In der„Stadt 2050“ werde man „mehr zu Fuß gehen“ und „viel Fahrrad fahren“. 12,5 Quadratmeter für jeden einzelnen Parkplatz? „Das leisten wir uns nicht mehr.“
Uli Burchardt in Konstanz, Peter Kurz in Mannheim: Beide hätten ihre Bücher auch allein mit Klagen über Hindernisse und Widerstände füllen können. Doch den Glauben an die Stadt als Keimzelle guter Politik haben sich nicht austreiben lassen.